03.05.2017
Hintergrund

Ganz schön
frech


Schnell, auf Augenhöhe und mitunter ziemlich frech: Die Digitalisierung hat nicht nur die Produkte im ÖPNV verändert, sondern auch die Kommunikation. Diese hat sich zunehmend professionalisiert. Vor allem der Kundendialog in den sozialen Medien ist nicht mehr wegzudenken. „VDV Das Magazin“ präsentiert besonders gelungene Beispiele.


Eine U-Bahn fährt auf dem Foto durchs verschneite Berlin. „Kaum ist Fashion Week, schon liegt überall weißes Pulver“, hat das Social-Media-Team der Berliner Verkehrsbetriebe frech dazu getextet. Das Bild geht in den sozialen Netzwerken viral, wird geteilt, gelikt und kommentiert. Und die BVG hat sich einmal mehr die Aufmerksamkeit der Online-Republik gesichert. Wie so oft seit 2015. Denn hinter solchen Posts – also Beiträgen in den sozialen Medien – steckt der größte Marketingerfolg in der Geschichte des Unternehmens. Seitdem es 2015 die Kampagne „Weil wir dich lieben“ lanciert hat, ist es damit in aller Munde – und zeigt, dass auch die gerne mal als konservativ bezeichneten Verkehrsunternehmen auf der Klaviatur moderner Kommunikation spielen können.

Dieses Motiv der BVG ging viral.

Einem Menschen, den sie sympathisch finden, verzeihen die Nutzer auch mal gerne kleine Fehler.

Dr. Martell Beck, Bereichsleiter Vertrieb und Marketing bei der BVG

Dabei sah es am Anfang ganz anders aus: „Charmeoffensive der BVG geht nach hinten los“, titelte etwa der „Spiegel“. Was war passiert? Im Januar 2015 hatten die Berliner ihre neue Kampagne gestartet. Flankiert wurde sie zwar auch durch Außenwerbung. Im Mittelpunkt standen aber die sozialen Medien: Facebook, Twitter, Youtube und Instagram. Auf diesen rief das Social-Media-Team die Follower auf, ihre schönsten BVG-Momente zu posten. Was folgte, war eine Flut hämischer Kommentare und reihenweise Kritik. „Ein kalkulierter Shitstorm“, heißt es bei den Verkehrsbetrieben. „Das war für viele eine Steilvorlage, erst einmal allen angestauten Ärger loszuwerden“, blickt Dr. Martell Beck, Bereichsleiter Vertrieb und Marketing bei der BVG, zurück. Doch der Ton habe sich rasch geändert, und schließlich sei das erste Ziel jeder Kampagne Aufmerksamkeit. „Und die hatten wir.“

Das Durchhaltevermögen der BVG und ihres Vorstands, der treibenden Kraft hinter der Kampagne, hat sich gelohnt: Heute gilt sie als eines der gelungensten Beispiele für digitale Kommunikation in Deutschland. Die Social-Media-Manager – eine externe Agentur in Zusammenarbeit mit der BVG-Marketing-Abteilung – begegnen den Usern auf Augenhöhe, mit viel Witz und Selbstironie. Auf verständliche Kritik reagieren sie angemessen und schnell. Wüste Beschimpfungen oder Hass-Kommentare kontern sie schlagfertig. „Der Ton ist deutlich entspannter geworden, seitdem die Menschen gemerkt haben, dass dort jemand ist, der sich selbst nicht zu ernst nimmt“, sagt Martell Beck: „Ganz konkret zeigt sich das daran, dass die Zahl der Beschwerden deutlich rückläufig ist. Aber einem Menschen, den man sympathisch findet, verzeiht man kleine Fehler ja auch gern.“ Zudem steigen die Fahrgastzahlen – und das mit über drei Prozent stärker als die Einwohnerzahl Berlins. 

Die Kampagne der BVG steht damit sinnbildlich für eine Kommunikation, die sich in den vergangenen Jahren auch in der Verkehrsbranche entscheidend verändert und professionalisiert hat – und die ihren Machern deutlich mehr abverlangt. Über die sozialen Medien formuliert sich Kritik schnell und auch hart. Geht es um Großbaumaßnahmen, können hier Gegner wie Befürworter direkt zusammenfinden und sich organisieren. Informationen verbreiten sich zügig – egal, ob wahr oder falsch. Gleichzeitig ist es leichter als früher, eine Beziehung zum Kunden aufzubauen und ihm auf Augenhöhe zu begegnen. „Wir haben hier in den vergangenen Jahren ein hohes Maß an Professionalisierung erlebt – und das ist auch dringend erforderlich“, sagt Ulf Middelberg, Vorsitzender des VDV-Marketingausschusses und Geschäftsführer der Leipziger Verkehrsbetriebe (siehe Interview unten).

Drei Fragen an

Ulf Middelberg, Geschäftsführer der Leipziger Verkehrsbetriebe und Vorsitzender des VDV-Marketingausschusses


» Herr Middelberg, man hat den Eindruck, dass sich die Beziehung Verkehrsunternehmen–Kunde grundlegend geändert hat. Stimmt das?

Ulf Middelberg: Ja. Zwischen Kunden und Verkehrsunternehmen entsteht auf vielen Ebenen eine neue Art von Augenhöhe. Durch die sozialen Medien hat sich nicht nur das Beschwerdemanagement geändert. Das verlangt von unseren Mitarbeitern viel Kompetenz und Eigenständigkeit. Erfolgsfaktoren sind Tempo, Ton und Traute.

» Einerseits bieten gerade die sozialen Medien die Chance, Kunden stärker einzubinden. Andererseits verbreiten sich auch falsche Fakten schnell und nachhaltig. Was überwiegt?
Aus unserer Sicht die Chancen. Gerade weil eigentlich alles, was wir tun, öffentlich ist. Wir können mit Social Media direkter auf Kritik eingehen und Gerüchten Fakten gegenüber stellen. Gleichwohl beginnt zum Beispiel Akzeptanz-Kommunikation nicht in den sozialen Medien, sondern viel früher. Sie hängt mit der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit zusammen. Und die lässt sich vor allem im Kontakt mit den Menschen vor Ort herstellen. Wir haben in Leipzig etwa eine „Kümmerin“, die bei Bauprojekten von Tür zu Tür geht und mit den Menschen spricht. Das ist der Vorteil von uns Verkehrsunternehmen gegenüber großen Autokonzernen und globalen Playern: Bei uns kann man klingeln.

» Digitale Kommunikation bindet schnell viele personelle Ressourcen. Können kleinere Verkehrsunternehmen hier überhaupt mithalten?
Das hat wenig mit der Größe zu tun, eher mit Fokus und Professionalität. Es lassen sich auch mit „Old School“-Mitteln positive Effekte erzielen – etwa mit Newsletter, Website oder SMS-Service. Am Ende geht es darum, gute Beziehungen zu unseren Kunden zu pflegen und neue Services zu entwickeln, für die es eine Zahlungsbereitschaft gibt. Kleine wie große Unternehmen haben über digitale Kanäle die Chance, immer besser zu werden.

Branchenweite Zahlen zum Ausbau der Online-Aktivitäten der ÖPNV-Unternehmen gibt es zwar nicht. Doch feststeht: Die Verkehrsunternehmen bemühen sich heute anders um ihre Kunden. „Viele Jahre war der Fokus auf das Produkt ÖPNV ausgerichtet“, findet Sven Hirschler, Pressesprecher beim Rhein-Main-Verkehrsverbund: „Nun stellen wir unsere Kunden in den Mittelpunkt. Dazu kommt, dass unsere Branche auch für Uber & Co. interessant geworden ist und sich die Erwartungshaltung der Kunden komplett gewandelt hat.“

Wie man diese auch abseits der Netzwerke erfüllen kann, hat der RMV selbst bewiesen – im Zuge einer Sperrung des S-Bahn­tunnels am Frankfurter Hauptbahnhof. Hintergrundgespräche mit Journalisten zur Maßnahme im Vorfeld, von Anfang an ein enger Bürgerdialog sowie die Einbindung der eigenen Mitarbeiter gehörten zum Konzept: „Es gab zum Beispiel Kritik an der Anzahl der Ersatzfahrten. Anstatt das Unternehmen sprechen zu lassen, hatte ein S-Bahn-Fahrer in einem Blogbeitrag den Menschen erklärt, warum der Zug nicht häufiger fahren konnte“, erläutert Sven Hirschler. Veröffentlicht wurden solche „Erklärstücke“ über die extra eingerichtete Website sbahnbaustelle.de – dem Herz der Kampagne. Diese Geschichten wurden dann wieder von den Medien aufgegriffen.

„Ärmel hochkrempeln für Frankfurt Rhein-Main“: Mit diesem Slogan und den Gesichtern der Mitarbeiter bewarb der RMV die Bauarbeiten am S-Bahntunnel.

Viele Jahre war der Fokus auf das Produkt ausgerichtet. Nun stellen wir die Kunden in den Mittelpunkt.

Sven Hirschler, RMV-Pressesprecher


Die Folge: regelmäßige Berichterstattung, fast ohne die klassische PR. Zudem organisierte der RMV ein Konzert im Tunnel, startete weitere Aktionen. „Wahnsinnig viel Arbeit“, blickt Sven Hirschler auf die drei mehrwöchigen Tunnelsperrungen in 2015 und 2016 zurück. Doch sie hat sich gelohnt. Trotz Großbaustelle und Verkehrsbehinderungen verbesserte der RMV seine Image-Werte. Das habe die kontinuierliche Marktforschung ergeben, so Hirschler. Und nicht nur das: Für die erfolgreiche Krisenkommunikation wurde das kleine Team aus RMV-, Deutsche-Bahn- und freien Mitarbeitern zwei Mal ausgezeichnet: mit dem PR-Report-Award 2016 sowie dem Internationalen Deutschen PR-Preis 2017. Sven Hirschler sieht die andere Kommunikation deswegen als Chance: „Die Digitalisierung eröffnet uns einen völlig neuen Zugang zu unseren Kunden. Diese Chance müssen wir konsequent nutzen.“ 

„Komplett lässt sich das Thema Akzeptanz aber nicht kommunikativ über die digitalen Kanäle lösen“, schränkt Ulf Middelberg ein. Neue Produkte, etwa in Sachen E-Ticketing und intermodale Reisekette, sichtbare Investitionen – wie in Leipzig die Anschaffung der neuen XL-Trams: Auch das positioniere den ÖPNV und zeige Wirkung. „2016 haben wir in Leipzig ein Plus von zehn Millionen Fahrgästen erreicht. Unsere Strategie aus Modernisierung, fairer Mitarbeitervergütung und Positionierung als Mobilitätsdienstleister scheint also aufzugehen“, sagt Middelberg.

WerbeFavoriten der
VDV-Follower

Nicht jede erfolgreiche Marketing-Kampagne wird bundesweit bekannt. „VDV Das Magazin“ hat deswegen die Follower der VDV-Facebook-Seite nach ihren Favoriten gefragt. Zwei ausgewählte Beispiele:

Essener Verkehrs-AG: Der Facebook-Post vom 21. Oktober 2015 wurde hundertfach geteilt und gelikt – und nutzte somit gekonnt die Werbewirksamkeit des Kultfilms „Zurück in die Zukunft II“. Protagonist Marty McFly sollte an genau diesem Tag mit seinem zeitreisenden Auto, einem DeLorean DMC-12, in der Zukunft ankommen. Für die EVAG ein Anlass, die eigenen Fahrzeuganschaffungen zu überdenken.

Stadtwerke Ulm: Dass auch witzige Buswerbung funktioniert, beweisen die Stadtwerke Ulm. Das Motiv ist Teil der neuen Kampagne „Verlass dich drauf“. Die Botschaft: Versprechen gegenüber den Kunden werden eingehalten.

Eine Liste des VDV-Marketingausschusses mit weiteren - erfolgreichen und weniger erfolgreichen – Kampagnen können Sie hier herunterladen.

Das könnte Sie ebenfalls interessieren