Infrastruktur
14.11.2017
Unterwegs im Netz

Bessere Bahn zwischen Stadt und Land

Mit der Straßenbahn aus der City auf die Schienen in der Region: Das ist das „Karlsruher Modell“. Gerade wurde das national wie international kopierte „Tram-Train“-Konzept der AlbtalVerkehrs-Gesellschaft (AVG) 25 Jahre alt. Und nun haben sich Betreiber und öffentliche Geldgeber geeinigt, wie sie die Zukunft des attraktiven Nahverkehrsangebots sichern wollen.


Anfangs traute mancher Intercity-Lokführer auf der Reise nach Basel seinen Augen nicht mehr: Da kam ihm doch kurz hinter Karlsruhe auf dem anderen Gleis wahrhaftig eine Straßenbahn entgegen! Mehr noch würden die Hochgeschwindigkeitspiloten gestaunt haben, wenn sie den weiteren Weg der Bahn hätten verfolgen können: Im Gleisvorfeld des Karlsruher Hauptbahnhofs schlängelten sich – und schlängeln sich heute – die rot-gelben Stadtbahnen der AVG durch die Weichenstraßen in den Albtalbahnhof. Wechseln dann ins innerstädtische Gleisnetz der Straßenbahn, halten brav an Ampeln, rollen durch die belebte Fußgängerzone bis zum Marktplatz mitten in der City. Und das nun schon seit September 1992.

Eine Stadtbahn vom Typ Flexity Swift überquert den Vorplatz des Karlsruher Hauptbahnhofs.

Hauptbahnhof in Randlage

„Man muss die Bahn zu den Menschen bringen und nicht die Menschen zur Bahn.“ Wie ein Mantra hatte Dieter Ludwig, langjähriger Chef der AVG und der Verkehrsbetriebe Karlsruhe (VBK), seit Mitte der 1980er-Jahre diesen Satz stets parat, wenn er in der Politik für sein Modell eines besseren ÖPNV warb. Und das aus gutem Grund: In einer Zeit des ungebremsten motorisierten Individualverkehrs verlor der Schienenpersonennahverkehr allenthalben massiv an Kundschaft; Bahnhöfe verfielen, Strecken verrosteten und wurden stillgelegt. Ludwig, lange Jahre Präsident des VDV, hatte früh eines der zentralen Probleme seiner Region erkannt: Der Hauptbahnhof von Karlsruhe liegt am Rande der Innenstadt – mit der Folge, dass Bahnreisende in die Residenzstadt vom Zug immer noch in örtliche Busse und Bahnen umsteigen mussten. Da nahmen viele potenzielle Kunden lieber das Auto.

Für den durchgehend umsteigefreien Bahnverkehr zwischen City und dem Umland mussten technische Probleme gelöst werden. Zum Beispiel die Energieversorgung: Die Karlsruher Tram fährt mit 750 Volt Gleichspannung, die Deutsche Bahn mit 15.000 Volt und Wechselstrom. Karlsruhe musste deshalb Zwei-System-Fahrzeuge entwickeln und beschaffen, die nun an den drei eigens gebauten Gleisverbindungen zwischen den Schienennetzen automatisch auf die richtige Energieeinspeisung umschalten. Es mussten Radsätze gewählt werden, die beides „können“ – auf dem schmalen Rillengleis in der Straße sowie auf Vollbahngleisen rollen. Ein- und Ausstiege benötigen ausfahrbare Schrittstufen, damit die Fahrgäste aus den schmaleren Trams gefahrlos die Bahnsteigkanten erreichen können. Ein weiteres zentrales Problem: Die Umlandstrecken waren längst nicht alle elektrifiziert. So wurde damals die 30 Kilometer lange Pilotstrecke von Karlsruhe nach Bretten mit Fahrdraht und Stromversorgung ausgestattet – ein 80-Millionen-D-Mark-Projekt. Gegenüber klassischen Nahverkehrszügen hatte die Tram dort aber einen entscheidenden Vorteil: Sie war leichter, beschleunigte schneller und bremste kürzer. Das schuf Reisezeitgewinne, die in zusätzliche Haltepunkte investiert wurden. So entstanden – nah an den Kunden – allein an der Pilotstrecke mehr als ein Dutzend zusätzlicher Stopps.

„Ludwigs Bahn“

Von der Eröffnung an war die neue Bahn ein Renner, die Fahrgastzahlen vervielfachten sich in wenigen Monaten. Und so fiel es Dieter Ludwig, der seit den Tagen seines Ingenieurstudiums die Lizenz als Tramführer hatte und immer wieder selbst in den Führerstand stieg, nicht allzu schwer, mit der guten Idee des Karlsruher Modells weiter zu werben. Am Ende stand ein S-Bahn-Netz von über 600 Kilometern Länge, mit Endpunkten beispielsweise in Heilbronn, Bad Wildbad, Bietigheim-Bissingen, Germersheim, Freudenstadt, Baden-Baden und Achern. Nur ein Teil der Strecken gehört der Albtalbahn. Gefahren wird auch auf Gleisen nichtbundeseigener Eisenbahnen ebenso wie im DB-Netz. Und einige Linien, wie die Gebirgsbahn durch das Murgtal hinauf in den Schwarzwald nach Baiersbronn und Freudenstadt, wurden von der AVG für Jahrzehnte gepachtet, elektrifiziert und für den Stadtbahnbetrieb ausgebaut.

170

Millionen

So viele Fahrgäste nutzen jedes Jahr die Straßenbahnen in und um Karlsruhe. Zum Start des Modells vor 25 Jahren waren es 100 Millionen.

„Ludwigs Bahn“ – wie eine Fachzeitschrift seinerzeit das Karls­ruher Modell anerkennend in Reminiszenz an die „Ludwigsbahn“, die erste deutsche Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth, betitelte – sorgte schnell für ein verändertes Kundenverhalten. Dank der durchgehenden Stadt-Umland-Verbindungen mit modernen Stadtbahn-Triebwagen stieg die Zahl der Fahrgäste in den 25 Jahren von 100 Millionen auf 170 Millionen im Jahr, berichtet Dr. Alexander Pischon, heute Vorsitzender der Geschäftsführung von AVG und VBK: „Das Karlsruher Modell hat sich hervorragend bewährt, und inzwischen haben wir auch die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft gestellt.“ Zunächst durch ein ambitioniertes Infrastrukturprojekt: Die Stadt leistet sich zwei derzeit im Bau befindliche, insgesamt gut vier Kilometer lange Tunnelabschnitte mitten im Zentrum mit sieben unterirdischen Haltestellen, die bis 2021 in Betrieb gehen sollen. „Mit der Fertigstellung des Innenstadttunnels können wir mit einem noch attraktiveren Angebot weitere Fahrgäste hinzugewinnen“, ist Pischon überzeugt.

Modell in andere Städte übertragen

Zugleich wurden in Karlsruhe erste Schritte unternommen, das bewährte System auf den liberalisierten Verkehrsmarkt auszurichten. In einem Eckpunktepapier verständigten sich die Stadt Karlsruhe und das Land Baden-Württemberg darauf, das Modell auf seinen qualitativen Ursprung zurückzuführen. Nach dem Auslaufen der derzeitigen Betreiberverträge im Jahr 2022 will das Land alle Linien, die mit Zwei-System-Fahrzeugen umsteigefrei zwischen Stadt und Region bedient werden, per Direktvergabe bis zunächst 2035 von der AVG betreiben lassen. Vier reine Eisenbahn-Verbindungen dagegen werden dann EU-konform als klassischer SPNV europaweit ausgeschrieben und nicht mehr mit den rot-gelben Stadtbahnzügen bedient.
Seit den Anfängen lockt das Verkehrskonzept bis heute Tram-Train-Experten aus aller Welt nach Karlsruhe. Das Modell wurde vielfach in ähnlicher Form realisiert, zum Beispiel in Kassel, Chemnitz und Saarbrücken, in französischen und britischen Stadtregionen von Straßburg bis Sheffield. Und auch bei der Renaissance des Schienennahverkehrs in Nordamerika gibt es erste vergleichbare Angebote eines besseren ÖPNV.


Vier
Fragen an

die AVG-Geschäftsführer Dr. Alexander Pischon (l.) und Ascan Egerer


» Wie groß ist das künftige Direktvergabe-Netz der AVG?
Alexander Pischon: Das lässt sich noch nicht im Detail sagen. Nach heutigem Stand „wegfallen“ werden die Stadtbahn-­Streckenäste von Baden-Baden in Richtung Achern sowie von Forbach in Richtung Freudenstadt. Bereits im Wettbewerb vergeben sind die Strecken Bruchsal – Mühlacker und Pforzheim – Bietigheim-Bissingen (Betriebsaufnahme 2019). Diese werden in Zukunft nicht mehr von AVG-Stadtbahnfahrzeugen bedient. Die AVG wird im Gegensatz zu der heutzutage erbrachten Verkehrsleistung bis zu 30 Prozent weniger an Zugkilometern zu erbringen haben.

» Inwieweit kann die Fahrzeugflotte nach 2022 verkleinert werden? Wie wirkt sich das auf die Personalsituation aus, wie auf die Instandhaltungsinfrastruktur und deren Mitarbeiterbestand?
Ascan Egerer: Grundsätzlich ist geplant, ältere Fahrzeuge sukzessive auszumustern und durch neue zu ersetzen. Der künftige Bestand wird erst durch den zu schließenden Verkehrsvertrag und die darin zu vereinbarenden Fahrzeugkapazitäten festgelegt. Wir gehen davon aus, dass die AVG in den kommenden Jahren zunehmend erforderliche Instandhaltungs- und Serviceleistungen für Dritte anbieten kann. Hierfür werden die Fachkräfte der AVG aus den unterschiedlichsten Bereichen selbstverständlich auch weiterhin benötigt. Vor diesem Hintergrund soll es keinen Personalabbau geben.

» Beim Ausbau der Fernlinien wurden vielfach – zum Beispiel Richtung Bretten – zusätzliche stadtnahe Haltestellen eingerichtet. Entfällt deren Bedienung im künftigen reinen Eisenbahnverkehr?
Pischon: Nein, auch nach der Umstellung werden diese Haltestellen von den Stadtbahnen weiterhin bedient. Zudem hat das Land Baden-Württemberg zugesagt, auf den durch reine Eisenbahnleistungen bedienten Streckenabschnitten alle Halte auch in Zukunft zu bedienen.

» Die AVG hat ihre Fernlinien und die Infrastruktur dafür erheblich ausgebaut. Bleiben die Strecken und Infrastruktur wie Bahnhofsgebäude, die heute im Eigentum der AVG sind, weiterhin beim Unternehmen und erhält sie künftig von Dritten Trassenpreise auf den nicht mehr von ihr bedienten Strecken?
Egerer: Ja, diese Strecken und die Infrastruktur bleiben im Eigentum des Unternehmens. Die Pachtstrecken sind über lang laufende Verträge bis ins Jahr 2045 von der AVG gepachtet worden. Dort, wo Dritte auf dieser AVG-Infrastruktur verkehren, erhält die AVG Trassenpreise und Stationsentgelte.

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