Europa
28.08.2017
Grenzenlos

Der Schritt
in die Praxis

Die Mobilität im ländlichen Raum gilt als eine der größten Herausforderungen im Öffentlichen Verkehr. Vielerorts ist das ÖPNV-Angebot auf die Grundversorgung alter und junger Menschen beschränkt, um zur Schule, zum Arzt, zu Freunden zu kommen. Wie lässt sich ein zeitgemäßes Mobilitätsangebot für alle Bevölkerungsgruppen gestalten? In Nordjütland hat die Nordjyllands Trafikselskab eine Antwort auf diese Frage gefunden – und ist dafür jetzt von der UITP ausgezeichnet worden.


Weiße Sandstrände, Heidelandschaften, malerische kleine Orte – und dann die Spitze ganz oben, wo Nord- und Ostsee aufeinandertreffen: Das ist Nordjütland. Touristen lieben diese Region im Norden Dänemarks, ein Verkehrsunternehmen würde sie aber wahrscheinlich als herausfordernd bezeichnen. Nur etwas über 580.000 Einwohner leben hier – mehr als ein Drittel davon in und um Aalborg, der mit Abstand größten Stadt im Verwaltungsbezirk. Die restlichen wohnen weit verteilt, zwischen Hals im Osten und Klitmøller im Westen.

Ein ländlicher Raum, wie er im Buche steht. Dennoch hat das Verkehrsunternehmen Nordjyllands Trafikselskab (NT, siehe Infobox) hier begonnen, in der Praxis etwas umzusetzen, was woanders meist noch auf dem Papier steht. „Around your world“ heißt das Projekt, beziehungsweise „Din verden rundt“. Das Ziel: von einem reinen Transportdienstleister zu einem ganzheitlichen Mobilitätsanbieter zu werden, über alle Verkehrsträger hinweg – und das schon bis 2019. Dafür setzt NT unter anderem auf den Ausbau seines Netzes und eine Vernetzung der Angebote. Solche Pläne klingen vertraut: Über ähnliche Ideen diskutieren auch die Verkehrsunternehmen in Deutschland und anderswo. „Wir haben das Rad nicht neu erfunden“, räumt Ole Schleemann, stellvertretender NT-Geschäftsführer, ein. „Aber wir sind bei den Mobilitätslösungen für den ländlichen Raum vielleicht konkreter geworden als andere. Wir reden nicht nur darüber, was zu tun ist – wir tun es auch.“

400 Buslinien
in Nordjütland

Nordjyllands Trafikselskab (NT) ist ähnlich organisiert wie ein deutscher Verkehrsverbund. NT übernimmt die planerische und organisatorische Arbeit. Die eigentliche Beförderungsleistung wird an private Drittanbieter vergeben. Gesellschafter von NT sind die elf Gemeinden Nordjütlands sowie die gleichnamige Region. Insgesamt betreibt NT rund 400 Bus- sowie drei Bahnlinien, die jährlich rund 31 Millionen Fahrgäste befördern. Im August übernahm das Unternehmen zusammen mit seiner Tochter Nordjyske Railways und der Region Nordjütland den regionalen Bahnverkehr von der Dänischen Staatsbahn DSB in Nordjütland.

„Eine exzellente Lösung“

Das kommt an. Der Internationale Verband für Öffentliches Verkehrswesen UITP zeichnete NT jüngst mit einem seiner UITP-Awards aus, in der Kategorie „Kleinstädte und Gebiete mit geringer Bevölkerungsdichte“. Das dänische Projekt liefere eine „exzellente, vollständige und integrierte Mobilitätslösung für die Bevölkerung im ländlichen Raum“, lobte die Jury. Mit den Awards ehrt die UTIP innovative nachhaltige Mobilitätsprojekte.

In Nordjütland leben nur 73,7 Menschen pro Quadratkilometer. Das Verkehrsunternehmen NT geht deswegen innovative Wege in Sachen ÖPNV.

Doch was steckt hinter „Around your world“? Im Kern geht es um die Frage, die auch die hiesigen Verkehrsunternehmen umtreibt. Nämlich, welche Rolle sie in Zukunft spielen wollen. Wollen sie das Rückgrat der Mobilität bleiben und die Verkehre der Zukunft steuern? Oder anderen Anbietern das Feld überlassen? Carsharing, Mitfahrzentralen, die neue, plattformgesteuerte Mobilität – diese Trends verändern bekannterweise den Markt, so Ole Schleemann. „Wir könnten versuchen, diese Entwicklung zu bekämpfen oder zu ignorieren. Aber dann würden wir sicherlich verlieren. Oder wir packen es an.“

Die NT entschied sich dafür, ihre Führungsrolle in Sachen Mobilität nicht aufzugeben – und die Angebote der Konkurrenz ins eigene Portfolio zu integrieren. Deshalb arbeitet sie nun unter anderem mit einem Carsharing-Betreiber zusammen, dessen Leistungen sie ihren Kunden unter dem Dach der NT anbietet. Ist diese Kooperation erfolgreich, sollen weitere Partnerschaften folgen. Ähnliches ist für Bikesharing und Mitfahrzentralen geplant. Im Oktober soll zudem die passende App an den Start gehen, die das durchgängige Planen und Buchen über alle Verkehrsträger hinweg ermöglicht, erklärt Ole Schleemann. Der Name: „Den Nordjyske Rejseplanlægger“.

Links: Zum Fußballspiel mit „Flextur“:
Gruppen können über diesen Service gleich den ganzen Bus buchen.

Rechts: Zu Freunden, zur Schule, zum Sport:
Jugendliche sind auf dem Land auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen.

„Bus on demand“ – seit 1998

Gleichzeitig soll auch der eigentliche ÖPNV weiter gestärkt werden: mit dichterer Taktung, engerem Netz, einem Bus-Rapid-Transit-System in Aalborg, vereinfachtem Tarifsystem und einer Art Mobilitätsgarantie für alle. Egal, wie groß die Entfernung zur nächsten Haltestelle ist: Jeder soll diese möglichst einfach erreichen können, ländlicher Raum hin oder her. Die Grundlagen dafür hat NT bereits vor Jahren gelegt: 1998 etwa rief das Unternehmen „Flextur“ ins Leben, eine Art „Bus on demand“, der die Kunden zu Hause abholt und zum Wunschziel bringt. Das passiert zwar meistens nicht auf dem kürzesten Weg, da auch andere Fahrgäste mit im Minibus sitzen. Doch dafür ist die Fahrt günstiger als im Taxi. Von diesem Service profitieren vor allem Kunden abseits des Kernnetzes – also dort, wo nur wenig oder gar keine Busse fahren. Ähnlich funktioniert „Plustur“: Hier werden die Fahrgäste bis zum nächsten regulären Bushalt oder Bahnhof gebracht – zum normalen Tarif. Vor allem dieses Angebot will NT weiter stärken, um noch mehr Menschen den Zugang zum Öffentlichen Verkehr zu erleichtern. Zudem packt das Unternehmen seine Bushaltestellen und Bahnhöfe an. Die sogenannten „Hubs“ werden unter anderem um Extra-Parkplätze für Carsharing-Autos erweitert. Ein neues Design und eine neue Kennzeichnung sollen eine optische Anbindung zwischen dem virtuellen Rejseplanlægger und den Haltestellen in der echten Welt schaffen.

Carsharing-Kunden steigen irgendwann auf den ÖPNV um. Das erhöht auch unsere Fahrgastzahlen.

Ole Schleemann, stellvertretender NT-Geschäftsführer

Vorteil Finanzierungsmodell

All das kostet. Insgesamt hat das Verkehrsunternehmen für die Entwicklung der Reise-App sowie den Ausbau der Hubs ein Volumen von drei Millionen Euro veranschlagt. Hinzu kommt ein Plus bei den Betriebskosten: Der Ausbau von Liniennetz und Plustur schlägt mit zusätzlichen drei Millionen Euro pro Jahr zu Buche. Großer Vorteil für die Dänen ist jedoch das Finanzierungsmodell für den ÖPNV im Land, in dem die öffentliche Hand einen Großteil der Kosten trägt (s. Infobox). Deswegen kann nun bereits auf einem Drittel des Geschäftsgebiets das Busnetz ausgebaut werden. Stimmt die Nachfrage, ist das Vorhaben also erfolgreich, sei das eine gute Basis, um ab 2019 mit der Politik über die restlichen zwei Drittel zu diskutieren, so Ole Schleemann. Für größtmöglichen Erfolg setze NT dabei unter anderem auf den Effekt des Carsharings – als fließendem Einstieg in den ÖPNV. Ole Schleemann: „Studien zeigen, dass Carsharing-Kunden an irgendeinem Punkt auf Bus und Bahn umsteigen. Das erhöht letztlich auch unsere Fahrgastzahlen.“

Ein Selbstläufer war „Around the World“ mit Blick auf die Finanzierung jedoch nicht – auch nicht, was die erste Ausbaustufe des Busnetzes angeht. „Wir haben wirklich eine Menge Zeit in die Diskussionen mit der Politik gesteckt“, blickt Ole Schleemann zurück. Dass das Vorhaben trotzdem realisiert wird, liege auch an der politischen Agenda Dänemarks. „Diese fokussiert sich auf drei große Themen: wirtschaftliches Wachstum, das Wohl der Menschen und Umweltschutz. Der Öffentliche Verkehr spielt für alle drei eine entscheidende Rolle.“

Mehr Infos über „Around your world“ finden Sie auf den Seiten der NT: www.nordjyllandstrafikselskab.dk
Einen Film zum Projekt in englischer Sprache gibt es unter:tinyurl.com/ybc4td6k

ÖV-Finanzierung
in Dänemark

Der Öffentliche Verkehr in Dänemark wird dezentral über sechs regionale Transportbehörden organisiert. Nordjyllands Trafikselskab ist eine von ihnen (siehe Infobox). Der Betrieb der Busse wird ausgeschrieben, der Dienstleister erhält in der Regel Bruttokostenverträge*. Heißt: Die Behörde zahlt für die Leistungen, erhält aber die Ticketeinnahmen. Das wirtschaftliche Risiko liegt somit bei der öffentlichen Hand. Denn für das Ausgleichen eines Defizits sind die Gesellschafter der Transportbehörden verantwortlich: die Gemeinden (für das lokale Busnetz) oder die jeweils zuständige Region (regionaler Busverkehr). Anders ist die Vertragslage übrigens im Zugverkehr. Hier gibt es auch Nettokostenverträge. 2013 war der dänische ÖV auch international ein Thema: Damals erhöhte die dänische Regierung die Steuern für Unternehmen, die in der Nordsee Öl fördern. Das Geld fließt in einen Schienenfonds und soll unter anderem der Elektrifizierung der Strecken zugutekommen. Aufgrund der fallenden Ölpreise liegen die Einnahmen jedoch unter den Erwartungen, berichtete jüngst die „Copenhagen Post“.

*Quelle: „Finanzierung des ÖPNV in Deutschland und in einzelnen europäischen Staaten“, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Februar 2012

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