Europa
29.01.2020

Gratis-ÖPNV nach millionenschwerem Ausbau

Nahverkehr zum Nulltarif wird in Luxemburg ab 1. März dieses Jahres Realität. Angesichts einer in Europa unübertroffenen Auto-Dichte sucht das Großherzogtum die Verkehrswende. Kostenlos Bus- und Bahnfahren ist dabei ein vom Land leicht finanzierbarer Teil-Aspekt in einem milliardenschweren Programm für nachhaltige Mobilität.

Das Verkehrschaos empfängt den Besucher gleich vor dem Luxemburger Hauptbahnhof. Ganze Wälle von grün-grauen Absperrgittern, dahinter Baufahrzeuge, Bürocontainer, offene Baugruben, jede Menge Arbeiter in knallorangefarbenen Westen. Die Haltestellen des Busbahnhofs vor dem ehrwürdig-klassizistischen Empfangsgebäude mit dem markanten Uhrenturm sind nur noch im Slalom zu erreichen: Elektrische Kleinbusse, Gelenkbusse, Doppelgelenkbusse, straßenbahnähnliche Busbahnen kommen an und fahren ab ohne Ende. Dazwischen im Dauerstau Autos, Autos, Autos. Das ist der vorläufige Endpunkt der kilometerlangen Baustelle für Luxemburgs künftige Stadtbahn, die den Hauptbahnhof Ende 2020 erreichen soll. Sie zieht sich quer durch die Stadt, vom Place de L’Etoile, auf luxemburgisch „Stäreplaz“, entlang des Altstadthügels, der vor etwas mehr als hundert Jahren noch eine Festung war, hinüber in den Stadtteil Gare (Bahnhof).

Die Stadtbahnlinie T 1 soll so etwas wie die Lebensader des Projektes „MoDu 2.0” werden. Hinter der Abkürzung verbirgt sich „mobilité durable”, französisch für nachhaltige Mobilität. Eine Linie, die bis 2021 auf zunächst 16 Kilometern die Stadt Luxemburg vom Nordosten bis in den Südwesten queren soll. Seit 2017 ist ein erster Abschnitt vom Stäreplaz zum Kirchberg-Plateau auf der Avenue John F. Kennedy bereits in Betrieb, vom Stadttheater entlang einer spektakulären Reihe avantgardistischer Architektur von der Universität und der Philharmonie über Bankenpaläste bis zum Europa-Parlament.

Der Erfolg der Stadtbahn, die von der in öffentlicher Hand befindlichen Aktiengesellschaft Luxtram betrieben wird, stellte sich auf dem ersten Abschnitt schnell ein. Die Zahl der Fahrgäste war schon kurz nach dem Start viermal so hoch wie eigentlich erwartet. Statt im ursprünglich geplanten Sechs-Minuten-Takt verkehren die Bahnen zu den Verkehrsspitzen alle vier Minuten. Doch die Zugkapazität mit 430 Passagieren stößt an ihre Grenzen. Anvisiert sind bereits ein Drei-Minuten-Takt und Straßenbahnen mit 600 Plätzen. Neun Umsteigepunkte sind entlang der T 1 geplant, mit auf die Tram abgestimmten Bus-Linien, zum Nah- und Regionalverkehr auf der Schiene sowie zur wachsenden Zahl an Park-and-ride-Plätzen. „Erst waren viele skeptisch gegenüber dem Tramprojekt, heute will jedes Stadtviertel die Straßenbahn haben”, beobachtet auch Marc Hoffmann, Personenverkehrsvorstand der luxemburgischen Staatsbahn CFL.

9

Prozent

So gering ist in Luxemburg der Anteil der Fahrgeld-Einnahmen an den Kosten des ÖPNV.

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Umsteigen schnell und bequem – das ist das Ziel. Dafür scheut der Bahn-Konzern auch außergewöhnliche Lösungen nicht. Ein Ausnahmeprojekt: Im Stadtteil Kirchberg kreuzen Tram und Vollbahn nahezu rechtwinklig, die eine über eine hohe Brücke auf dem Hügel, die andere im Pfaffenthal. Der Höhenunterschied liegt bei 40 Metern. Eine hypermodern gestaltete – kostenlose – Standseilbahn mit Kabinen groß wie Flughafenbusse erspart lästiges Treppensteigen und verkürzt die Wege zwischen den Höhen und Bahnsteigen zu einem Ein-Minuten-Trip. Zweigleisig, mit vier Fahrzeugen. „Wir brauchen zwei parallele Bahnen, damit es im Berufsverkehr keine Wartezeiten gibt”, erläutert Hoffmann. Mit einer Kapazität von 7.000 Passagieren pro Stunde und Richtung ist die knapp 100 Millionen Euro teure, großzügig dimensionierte Anlage in edel anmutender Glas- und Edelstahl-Architektur dafür gerüstet. „Es macht keinen Sinn, irgendwo kostenlosen ÖPNV anzubieten, wo das Angebot schlecht ist. Die Leute steigen nur dann um, wenn das Angebot eine gute Qualität hat”, predigt Luxemburgs Verkehrsminister François Bausch immer wieder in Vorträgen und Interviews.

Es macht keinen Sinn, irgendwo kostenlosen ÖPNV anzubieten, wo das Angebot schlecht ist.

François Bausch,
Verkehrsminister von Luxemburg

Die Tram und die Umsteigeknoten sind Bausteine in einem multimodalen Gesamtkonzept, mit dem Luxemburg Autofahrer generell aus dem motorisierten Individualverkehr holen will. Die beschaulich-charmante Hauptstadt des Großherzogtums mit seinen 600.000 Einwohnern ist – nicht zuletzt dank des Sitzes zahlreicher Großkonzerne und EU-Institutionen – ein Brennpunkt von extremen Pendlerströmen. Von 450.000 Arbeitnehmern im Lande sind rund 200.000 „Grenzgänger” aus den Nachbarländern Deutschland, Belgien und Frankreich, die jeden Werktagmorgen in die eher übersichtliche Kapitale und ihr Umland strömen. Bausch wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass auf diese Weise jeden Tag 250.000 leere Autositze durch Luxemburg bewegt werden. Stau-Chaos und Treibhausgas-Ausstoß – das sind die Folgen, die MoDu 2.0 beseitigen soll. Mit einer Fülle von Maßnahmen, die zwar auch den Individualverkehr besser lenken, vor allem aber den Umweltverbund von Öffentlichem Verkehr und dem Fahrrad fördern sollen. Dazu zählen der Ausbau elektrischer Ladestationen für Pkw, die Einrichtung von Fahrrad-Mietstationen, eine optimierte Mitfahrerzentrale, die Neugestaltung des Bus-Liniennetzes und die Umstellung auf Elektrobusse. Basis wird eine App sein, die für jede Strecke das komplette Angebot der Verkehrsmittel sinnvoll zusammentragen kann, natürlich in Echtzeit, mit dem ökologischen Fußabdruck und den Kosten, die es dann aber nur noch außerhalb des ÖPNV gibt.

Massiv investiert Luxemburg in den Schienenverkehr. Der aktuelle Mehrjahresplan sieht bis 2027 knapp vier Milliarden Euro an Investitionen für die Bahn vor, für Infrastruktur und neue Züge. CFL-Eisenbahner Hoffmann rechnet gerne vor, dass derzeit für jeden Einwohner Luxemburgs pro Jahr 600 Euro in den Bahn-Ausbau gesteckt werden, nicht ganz das Doppelte des Eisenbahn-Musterlandes Schweiz und fast zehn mal so viel wie in Deutschland.
Zu den anspruchsvollen Aufgaben zählt genauso der Ausbau eines 600 Kilometer langen Radwegenetzes. Auch hier leistet sich Luxemburg zuweilen ungewöhnlich pragmatische Lösungen. Zum Beispiel am Pont Adolphe: Die gut 150 Meter lange Sandsteinbrücke über das Tal des Flüsschens Petruss verbindet Altstadt und Bahnhofsviertel. Bei der letzten Sanierung wurden bereits die Straßenbahn-Gleise für den Streckenabschnitt zum Hauptbahnhof verlegt. Das historische Bauwerk, das zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt zählt, wurde für die Mobilität der Zukunft um einen außergewöhnlichen Radweg ergänzt – ein dreispuriger Tunnel für Räder in beiden Richtungen und für Fußgänger auf einer Hängebrücke unter den Fahrbahnen und Schienen, mit atemberaubenden Ausblicken durch die Sandsteinbögen hinab in die Tiefe des Tales.

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In dem Gesamtvorhaben der nachhaltigen Mobilität ist der kostenlose Nahverkehr für Minister Bausch nicht mehr als „ein Sahnehäubchen auf dem Kuchen einer umfassenden Verkehrsstrategie”. Ein hoher Kostendeckungsgrad durch Ticketverkauf ist bei den Verkehrsunternehmen in Luxemburg nicht das Thema: Die Fahrgeldeinnahmen machen laut Bausch mit 41 Millionen Euro lediglich neun Prozent der Ausgaben von gut 490 Millionen Euro für den ohnehin schon preiswerten öffentlichen Nahverkehr mit großzügigen Sozialtarifen aus. Die künftigen Mehrausgaben ab März seien ein eher bescheidener Betrag angesichts der hohen Gesamtinvestitionen für den Verkehr, sagt Marc Hoffmann von der CFL.
Vom „Gratistransport”, wie der Nulltarif in Luxemburg heißt, werden auch alle ausländischen Pendler profitieren. Ihre Abo- oder Jahreskarten gibt es für den CFL-Abschnitt künftig umsonst. Ganz normal weiter zahlen muss dagegen die Kundschaft der ersten Klasse.

Drei fRagen an

Marc Hoffmann,
Direktor Personen­verkehr der luxemburgischen Staatsbahn CFL

Herr Hoffmann, der Nulltarif im Nahverkehr soll zum Umsteigen in den Öffentlichen Verkehr animieren. Wird die Politik parallel dazu das Autofahren etwa durch eine verteuerte Parkraumbewirtschaftung erschweren, wie das zum Beispiel in Wien für das 365-Euro-Ticket geschehen ist?
» Marc Hoffmann: Das ist nicht explizit geplant. Ziel ist nicht die einfache Verdrängung des Autos, sondern ein so attraktives ÖPNV-Angebot, dass die Leute freiwillig umsteigen. Das wird ein langfristiger Mentalitätswechsel. Dabei wird das Autofahren in der City jetzt schon während der Bauzeit und auch zukünftig ohnehin mühsamer, weil der Gleiskörper der Tram viel Straßenraum beansprucht. Es wäre schon viel erreicht, wenn wir den Zuwachs an motorisiertem Individualverkehr stoppen. Luxemburg ist heute, auch ohne eigene Autoindustrie, ein Autoland.

Für den besseren ÖPNV nimmt Ihr Land viel Geld in die Hand, weit mehr als jedes andere Land in Europa. Was sind die Gründe dafür?
» Heute wird so viel gebaut, weil 20 Jahre so gut wie nichts getan wurde und der zunehmende Autoverkehr die Mobilität immer mehr einschränkt. Die Entscheidungsfreude der Politik hat erfreulicherweise zugenommen, wobei die laufenden Projekte gar nicht alle neu sind, sondern nun endlich nach Jahrzehnten der Diskussionen realisiert werden.

In Deutschland können immer wieder Milliardensummen für Infrastrukturprojekte nicht abgerufen werden, weil das Planungsrecht kompliziert ist oder Bürgerproteste alles verzögern. Haben Sie auch damit zu kämpfen?
» Eher weniger. Die Bürgerbeteiligung spielt natürlich auch bei uns eine Rolle, doch dieser Prozess endet dann, wenn ein Vorhaben im Parlament beschlossen und damit zum Projekt des öffentlichen Nutzens deklariert wird. Das ist politischer Wille: Deshalb gibt es bei uns auch keine komplexen, zeitaufwendigen betriebswirtschaftlichen Nutzwert-Berechnungen im Projektvorfeld wie in Deutschland. Bei uns zählt der volkswirtschaftliche Gewinn.

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