Volle Kraft für die Schiene

Die EU hat 2021 zum „Europäischen Jahr der Schiene“ ausgerufen. Mitten in der schwierigen Pandemie will die Gemeinschaft in der Konsequenz ihres vor wenigen Monaten angekündigten „Grünen Deals“ in Politik und Öffentlichkeit das Bewusstsein dafür stärken, dass die Eisenbahn in puncto Klimaschutz und Sicherheit das unumstrittene Verkehrsmittel Nummer 1 für die Mobilität der Zukunft sein muss.

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Prozent

so gering ist im statistischen Durchschnitt der Anteil des Güterverkehrs, der in den 27 Ländern der Europäischen Union über die Schiene abgewickelt wird.


Tradition und Zukunft liegen nahe beieinander: 2021 ist es 30 Jahre her, dass die damalige Bundesbahn den ICE-Verkehr mit Spitzentempo 250 auf den innerdeutschen Nord-Süd-Routen über die ersten Neubaustrecken Hannover – Würzburg und Mannheim – Stuttgart eröffnete. Sogar schon 40 Jahre liegt der Start des französischen train à grande vitesse (TGV) zurück, seinerzeit auf der „Nouvelle Ligne“ von Paris nach Lyon. Und vor stolzen 175 Jahren wurde die erste internationale Bahnstrecke zwischen zwei Hauptstädten, zwischen Paris und Brüssel, in Betrieb genommen. Ein weiteres Schienen-Jubiläum steht kurz bevor: Nur noch vier Jahre dauert es, bis das System Eisenbahn seinen 200. Geburtstag begehen kann. 1825 startete in England die allererste Bahn von Stockton nach Darlington.

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International Werbung machen

Brüssel will nun mit Veranstaltungen, Ausstellungen, Kampagnen und auf Branchenevents international Werbung für die Eisenbahn machen. Der breiten Öffentlichkeit soll verdeutlicht werden, dass sie als nachhaltiger, innovativer und sicherer Verkehrsträger unverzichtbar für die Mobilitätswende ist. Der Grüne Deal macht klare Vorgaben: Ein Viertel der Treibhausgas-Emissionen in der EU werden vom Verkehr verursacht; im Vergleich zu 1990 sollen 90 Prozent davon bis 2050 vollständig verschwinden.
Dieses anspruchsvolle Ziel ist nur zu erreichen, wenn nicht nur der Stellenwert, sondern der Marktanteil des Schienenverkehrs weit über das heutige Maß hinaus geht. Zwar ist die Eisenbahn nach Angaben aus Brüssel nur zu einem halben Prozent an den Treibhausgasen beteiligt. Allerdings sind ihre Anteile am gesamten Verkehrsaufkommen – EU-weit gerechnet – auch erschreckend gering: Nur sieben Prozent des Personen- und elf Prozent des Güterverkehrs in der Gemeinschaft der 27 Staaten werden im statistischen Durchschnitt auf der Schiene abgewickelt. Die für Verkehr zuständige EU-Kommissarin Adina Vălean bringt das Problem auf den Punkt: „Es steht außer Frage, dass der Schienenverkehr auf den meisten Gebieten – Nachhaltigkeit, Sicher­heit und sogar Geschwindigkeit – enorme Vorteile bietet, wenn seine Organisation und Technik den Standards des 21. Jahrhunderts entsprechen.“

Europäische Jahre

Seit 1983 ruft die EU nahezu kontinuierlich Europäische Jahre aus. Sie sollen, so heißt es, „für bestimmte Themen sensibilisieren, Diskussionen anstoßen und zum Umdenken anhalten“. Für die EU-Institutionen und die Regierungen der EU-Länder sei ein solches Jahresthema auch Anlass für starke politische Signale und die Zusicherung, dass die betreffende Problematik künftig auf der politischen Tagesordnung stehen werde. Das Europäische Jahr der Schiene fügt sich ein in einen schon prominent zu nennenden Kreis anspruchsvoller, hochrangiger Themen. Beispiele aus der Vergangenheit: 2018 – Europäisches Jahr des Kulturerbes, 2013/2014 – Europäisches Jahr der Bürgerinnen und Bürger, 2010 – Europäisches Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, 2007 – Europäisches Jahr der Chancengleichheit für alle, 1998 – Europäisches Jahr der lokalen und regionalen Demokratie, 1990 – Europäisches Jahr des Fremdenverkehrs.


Europa als einheitlicher Eisenbahnmarkt

Entsprechende Ansätze zur europaweiten Optimierung des Systems der Eisenbahn verfolgt die EU bereits seit 20 Jahren. Ihr Ziel war und ist, die von Land zu Land in Sachen Technik und Rechtsgrundlagen zum Teil völlig unterschiedlich operierenden Bahn-Gesellschaften und -Behörden zu einem einheitlichen Eisenbahnmarkt, der über die Grenzen hinweg für alle Bahnen geöffnet ist, umzugestalten. Mit vier „Eisenbahnpaketen“ wurden nach und nach die regulatorischen Voraussetzungen dafür geschaffen. In einem ersten Schritt war 2001 der Zugang zu den Schienennetzen geöffnet worden, um einen echten Wettbewerb der Bahnen überhaupt erst zu ermöglichen. In weiteren Phasen folgten zunächst der Aufbau gemeinsamer Sicherheitsstandards für den Bahnbetrieb und dann die Marktöffnung für den grenzüberschreitenden Personenverkehr. Den Abschluss bildet das Vierte Eisenbahnpaket, das im Herbst 2020 in Kraft trat. Zentraler Punkt ist der Übergang wesentlicher hoheitlicher Aufgaben für den sicheren und zuverlässigen Eisenbahnbetrieb von den nationalen Aufsichtsbehörden an die eigens errichtete Eisenbahn-Agentur der EU, die ERA.

Es steht außer Frage, dass der Schienenverkehr auf den meisten Gebieten enorme Vorteile bietet, wenn seine Organisation und Technik den Standards des 21. Jahrhunderts entsprechen.

Adina Vălean,
EU-Kommissarin für Verkehr

Die Vereinfachung und Standardisierung von Zulassungs- und Sicherheitsvorschriften ist für ERA-Chef Josef Doppelbauer ein Meilenstein auf dem Weg, „die Schiene zum entscheidenden Verkehrs­träger des 21. Jahrhunderts zu machen“. Dass dieses Ziel das zentrale Thema des Europäischen Jahres der Schiene ist, ist auch der Politik bewusst. „Die Verlagerung vom Personen- und Güterverkehr auf die Schiene ist ein wichtiger Baustein für die Mobilitätswende und unser Ziel, die CO2-Emissionen auch im Verkehrsbereich bis 2050 auf Null zu reduzieren“, erklärte die Grünen-Abgeordnete Anna Deparnay-Grunenberg, Berichterstatterin im Verkehrsausschuss und Verhandlungsführerin für das Europäische Parlament. „Nachhaltige Mobilität geht nur mit einer echten Renaissance der Schiene.“

Start ins ICE-Zeitalter: Unter dem damaligen Bahnchef Heinz Dürr (o.) begann in Deutschland der Hochgeschwindigkeitsverkehr. Ab Ende 2021 kommt die Renaissance der Nachtreisezüge. In den nächsten Jahren wollen vier europäische Eisenbahnen 13 Millionenstädte mit Nightjets (u.) verbinden.

„Neustart für die Mobilitätswende“

Der Wechsel der EU-Ratspräsidentschaft von Deutschland an Portugal zur Jahreswende war gekennzeichnet von der Kontinuität in Sachen Eisenbahn. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer verwies auf Modernisierungsprojekte wie die Digitale Automatische Kupplung für Güterwagen und auf Zukunftspläne für einen hochwertigen europäischen Reiseverkehr mit Tages- und Nachtzügen im „Europatakt“. Sein portugiesischer Amtskollege Pedro Nuno Santos zeigte sich überzeugt, „dass der Schienenverkehr das Herzstück unserer zukünftigen Verkehrsnetze sein wird und das Leben der Menschen auf dem gesamten Kontinent verbessert“.

VDV-Präsident Ingo Wortmann erweitert das besondere Jahr auch auf die Stadtbahnen und ist optimistisch: „Für das Erreichen der Klimaschutzziele im Verkehrssektor rennt die Zeit. Das Europäische Jahr der Schiene soll deshalb für uns zum Neustart für die Mobilitätswende werden. Es ist das richtige Signal, um bei den städtischen Bahnangeboten sowie bei der Eisenbahn im Fern- und Güterverkehr wieder mit voller Kraft Fahrt aufzunehmen.“

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