Europa
07.05.2019
Titelstory

Europa –
„die riesige Chance” für besseren Verkehr

Am 26. Mai ist Europawahl. Mehr denn je brauchen die proeuropäischen Volksparteien jede Stimme. Trotz Populismus, trotz Brexit und Brüsseler Bürokratie bedeutet Europa gute Gemeinsamkeit. Auch für ­Mobilität und Logistik – im Schienengüterverkehr wie im ÖPNV: Vier Beispiele, wie in der EU Grenzen ganz pragmatisch überwunden werden.

Mit dem Euroterminal betreiben wir die in der EU einzige grenzüberschreitende Verkehrsanlage. Wenn es Europa nicht gäbe, wäre sie nie gebaut worden.

Joachim Berends,
Vorstand der Bentheimer Eisenbahn und VDV-Vizepräsident Schienengüterverkehr


Ein Grenzgänger war Joachim Berends schon, als er dafür noch seinen Personalausweis brauchte. Denn zum nächsten Schlagbaum war es nie weit, und für seine Geschäfte musste er schon lange auf die andere Seite. Berends ist Chef der Bentheimer Eisenbahn und seit vielen Jahren Vizepräsident des VDV. Im äußersten Westen Niedersachsens an der Grenze zu den Niederlanden führen schon seit 1910 rund 75 Kilometer eingleisige Strecke quer durch die Grafschaft Bentheim – von Bad Bentheim nordwärts nach Coevorden jenseits der Grenze. Dort, auf holländischem Terrain, ist die Bahn aus der Grafschaft seit den 1990er-Jahren Partnerunternehmen des Euroterminals Emmen-Coevorden-Hardenberg, einer trimodalen Umschlaganlage für Container zwischen Zug, Lkw und Binnenschiff. Über den Coevorden-Almelo-Kanal gibt es eine Wasserstraße für 800-Tonnen-Schiffe zum Rotterdamer Hafen. Und die Bentheimer Eisenbahn ist das Bindeglied zwischen den Netzen der beiden Staatsbahnen NS und DB; Bad Bentheim ist der südliche Übergangspunkt an der Strecke Berlin – Amsterdam.

Im Jahr 2007 wechselte das Euroterminal den Standort und entwickelte sich zu einem prosperierenden Umschlagzentrum, das auch größere Industrieansiedlungen anlockte. Es ist einzigartig: 25.000 Quadratmeter seiner Flächen liegen in den Niederlanden, die restlichen 15.000 Quadratmeter auf deutschem Boden. „Wir betreiben die in der EU einzige grenzüberschreitende Verkehrsanlage”, sagt Joachim Berends nicht ohne Stolz. Und er unterstreicht: „Wenn es Europa nicht gäbe, wäre diese Anlage nie gebaut worden.” Europäisch denken die Niedersachsen auch im Personennahverkehr auf der Schiene. Mehr als 40 Jahre nach dessen Einstellung bekommt Nordhorn, die Kreisstadt der Grafschaft und Sitz der Bentheimer Eisenbahn, wieder einen Anschluss: Ab Sommer fahren auf der weithin erneuerten und für Tempo 80 fit gemachten Strecke von Neuenhaus über Nordhorn zum Intercity-Haltebahnhof Bad Bentheim fünf nagelneue Triebzüge vom Typ Coradia Lint 41 als Regionalbahn RB 56. Der Name zeugt von weitergehenden Ambitionen: Als „Regiopa-Express” sollen die Züge in wenigen Jahren bis in die Niederlande fahren, bis Coevorden allemal, besser noch 20 Kilometer weiter bis in die Industrie- und Hochschulstadt Emmen.

Grenzüberschreitende Verkehrs­anlage: 25.000 Quadratmeter des Euroterminals Emmen-Coevorden-Hardenberg liegen in den Niederlanden, 15.000 Quadratmeter in Deutschland.

Entsprechende Verhandlungen laufen zwischen der niederländischen Provinz Drenthe und der niedersächsischen Landesregierung in Hannover. Es dauert aber noch ein bisschen, beobachtet Joachim Berends: „Die Holländer sind pragmatisch-anpackend, wenn sie von einem Projekt überzeugt sind. Bei uns müssen wir erst einmal alle Bedenkenträger gewinnen.” Das Projekt muss erst durch die Bundes-Bürokratie der „standardisierten Bewertung”. Doch zusätzlicher Verkehr von voraussichtlich über 1.000 Fahrgästen pro Tag von und nach den Niederlanden sollte die Regiopa-Pläne realistisch machen, ist der Bentheimer Bahnchef überzeugt. Das „Projekt Regiopa” sei die richtige Antwort auf das veränderte Mobilitätsverhalten unserer Gesellschaft. „Wir liegen voll im Trend und sorgen für eine größere Unabhängigkeit vom Auto.”

Per Bahn auf die polnische Seite Usedoms

Szenenwechsel in den Nordosten der Bundesrepublik: Auf der Ferieninsel Usedom drängt sich der Straßenverkehr Sommer für Sommer. Immer mehr Urlauber steigen deshalb in die Usedomer Bäderbahn (UBB) um. Zu DDR-Zeiten vom Verfall bedroht, konnte die Inselbahn schon in den 1990er-Jahren wieder aufgebaut und komplett modernisiert werden. Allerdings mit einem Schönheitsfehler: Das Städtchen Swinemünde, bis zum Ende des zweiten Weltkriegs östlicher Endpunkt der Bahn, war durch die neue Grenzziehung zwischen der DDR und Polen abgeschnitten. „Seit 1997 haben wir trotzdem versucht, den fehlenden Streckenabschnitt zu reaktivieren”, erinnert sich UBB-Geschäftsführer Jörgen Boße. „Es ging ja nur um 1,4 Kilometer von der Grenze in Ahlbeck aus ins heutige Swinoujúcie. Doch die Verhandlungen waren mühselig.” Den Durchbruch brachte der Beitritt ­Polens zur EU und ein Treffen im Jahr 2004 von Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Ministerpräsident Donald Tusk, der 2014 Präsident des Europäischen Rates wurde. „Die beiden verstanden sich auf Anhieb”, erinnert sich Boße – und das brachte das Projekt voran. Die Euroregion Pomerania konnte die EU für die Finanzierung gewinnen, und im Herbst 2008 startete der Betrieb. „Ohne die EU wäre das nie zustande gekommen”, so Jörgen Boße. Das Schengen-­Abkommen mit dem problemlosen Grenzübertritt sorgte schnell für steigende Fahrgastzahlen: Im Sommer werden täglich im Schnitt 2.000 Fahrgäste gezählt, im Winter noch die Hälfte.

Usedomer Bäderbahn: Der erste offizielle Personenzug passierte im September 2008 in der Nähe von Ahlbeck die Grenze zum polnischen Teil der Ostseeinsel.

ÖPNV verbindet das Dreiländereck

„Ahoj sousede. Hallo Nachbar“ – mit dieser zweisprachigen Begrüßung lockt der Zweckverband Verkehrsverbund Oberlausitz Niederschlesien (ZVON) im Dreiländereck des Zittauer Gebirges zum gemeinsamen Kennenlernen des südöstlichen Teils des Kreises Görlitz und der benachbarten Regionen von Tschechien und Polen, der „Euroregion Neisse-Nisa-­Nysa”. Diese feierte am 30. April und am 1. Mai 2019 „grenzenlos und kostenlos”, dass die drei Länder seit dem Beitritt von Polen und Tschechien im Jahr 2004 gemeinsam in der EU sind. Das „Euro-Neisse-Ticket” ist ein wesentlicher Baustein der Gemeinsamkeit. Es wird in allen drei Ländern in der jeweiligen Währung angeboten und öffnet den ÖPNV in den Nachbarländern – eine Art Verkehrsverbund „light”: Er besteht aus der wechselseitigen Anerkennung des Tickets, ohne dass es eine grenzüberschreitende Einnahmenaufteilung gibt. Das nutzen nicht nur Touristen: So zieht es in der Vorweihnachtszeit viele Menschen aus dem tschechischen Liberec (Reichenbach) nach Dresden zum Weihnachtsmarkt – und sie nehmen den Regionalexpress „Trilex”, ein Produkt der zum Netinera-Konzern gehörenden Länderbahn. Auch das ist ein Stück europäischer Alltag: Für die Fortführung des Verkehrs über einst trennende Grenzen hinweg schlossen deutsche Verbünde und tschechische Aufgabenträger Anfang April einen gemeinsamen Verkehrsvertrag mit dem Bahnbetreiber für zwölf Jahre.

ÖPNV im Dreiländereck: Mit Förderung der EU entstand ein länderübergreifendes Angebot zwischen Tschechien, Polen und Deutschland.

Brückenschlag zu den Nachbarn

„Brücken über den Rhein als Friedensbrücken, die grenzüberschreitende Tram als Gegenbewegung zum Populismus in Europa, die Brücken und die Tram als Zeichen für das, was Europa vermag …” – so euphorisch feierte die badische Grenzstadt Kehl, nur durch den Rhein von Straßburg getrennt, ihre jüngste ÖPNV-Attraktion. Seit April 2017 fährt die Tram-Linie D aus der elsässischen Metropole über eine eigens gebaute Rheinbrücke in die Nachbarstadt. Zunächst nur bis zum Kehler Bahnhof, dann ab dem 23. November bis Kehl Rathaus. Mit drei Millionen Fahrgästen im ersten Betriebsjahr stiegen doppelt so viele Passagiere in die Bahnen, wie ursprünglich erwartet worden waren. Zur Feier des ersten Betriebsjahres erklärte die Freiburger Regierungspräsidentin Bärbel Schäfer, mit Projekten wie der Verlängerung der Tram über den Rhein könne „man deutlich machen, was Europa vermag“. Gerade auch in der unmittelbaren Nachbarschaft: „Wer, wenn nicht wir in den Grenzregionen, sollte zeigen, dass Europa eine riesige Chance ist.“

Die Tram zwischen Kehl und Straßburg - hier bei einem Test vor der Inbetriebnahme 2017 - nutzten im ersten Betriebsjahr drei Millionen Menschen.


Interview

„Europaweite Regelungen bringen uns weiter als nationale Lösungen“

Rund drei Viertel aller Regelungen, die den Eisenbahnverkehr und den ÖPNV in Europa betreffen, kommen aus Brüssel. Dort vertritt der europäische Zweig des internationalen Verbands UITP die ­Interessen des öffentlichen Nahverkehrs. Worauf es dabei ankommt, erklärt Ulrich Weber (Foto), ­Vorsitzender des EU-Komitees der UITP, im Gespräch mit „VDV Das Magazin“.

Herr Weber, Ziel der UITP ist es, den öffentlichen Verkehr bei den politischen Entscheidern in ­Europa ganz oben auf die Agenda zu bringen. Worauf kommt es dabei an, auch mit Blick auf die anstehenden Europawahlen?

» Ulrich Weber: Bei den Europawahlen werden die Karten neu gemischt. Ich gehe davon aus, dass mehr als die Hälfte der Abgeordneten nicht mehr in ihren bisherigen Ausschüssen arbeiten beziehungsweise neu ins Parlament gewählt wird. Wir haben die Sorge, dass unter den neuen Abgeordneten viele Europa-Skeptiker sein werden. Bei denen ist nicht absehbar, ob sie die Arbeit im Parlament unterstützen oder bestimmte Themen vielleicht sogar komplett ablehnen werden. Für den ÖPNV sind die Europa-Themen wichtig – etwa beim Wettbewerb und den Sozialstandards. Umgekehrt ist der ÖPNV für Europa wichtig, nämlich als Problemlöser bei der Luftreinhaltung und beim Klimaschutz. Grundsätzlich gilt, dass wir mit europaweiten Regelungen weiter kommen als mit nationalen Lösungen. Aber nicht alles muss auf europäischer Ebene bis ins Detail vorgegeben werden.

Manifest für die Mobilität in Europa

Zur Europawahl hat die UITP (L´Union Internationale des Transports Publics) die Initiative „Mobility on top“ ins Leben gerufen, die auch der VDV unterstützt. In der nächsten Legislaturperiode des EU-Parlaments sieht der internationale Nahverkehrsverband vier Kernthemen auf der Agenda: Grundsätzlich soll Mobilität bei allen politischen Entscheidungen der EU höchste Priorität genießen. EU-Mittel sollen stärker in den örtlichen Nahverkehr fließen. Beim Thema Multimodalität soll sichergestellt werden, dass der Öffentliche Verkehr Rückgrat sämtlicher Mobilitätsdienstleistungen ist. Zudem soll die Regulierung durch sektorspezifische anstatt weiterer horizontaler Regelungen verbessert werden. Zu diesen vier Punkten hat die UITP ein europäisches Mobilitätsmanifest erarbeitet, das im Internet nachgelesen und mitunterzeichnet werden kann.

www.bit.ly/uitp2019

Warum ist es für die Verkehrsunternehmen wichtig, über die UITP in Brüssel vertreten und nah an den politischen Entscheidern zu sein?

» Die Themen, die uns in fünf bis zehn Jahren auf lokaler Ebene beschäftigen, werden zuerst hier besprochen. Deswegen ist es sinnvoll, dass wir uns mit den Gesetzentwürfen auf ihrem Weg von der Kommission ins Parlament mit seinen Ausschüssen und dem Plenum intensiv auseinandersetzen und bei Bedarf Vorschläge machen und Änderungsanträge stellen. Mit den Kollegen aus den anderen Ländern stimmen wir gemeinsame Positionen ab und gehen damit zur EU-Kommission und ins Parlament. Das ist insofern sinnvoll, als nationale Verbände oder einzelne Unternehmen in Brüssel weniger Gehör finden. Als internationaler Verband werden wir dagegen besser wahrgenommen.

Um welche Themen geht es dabei?

» Beispielsweise machen wir konkrete Vorschläge dazu, wie EU-Mittel für den Verkehrshaushalt verwendet werden. Die EU-Zuschüsse – etwa für die Investitionen in Verkehr und Innovationen wie alternative Antriebe, Verkehrsinfrastruktur und die transeuropäischen Netze – sind wichtige Posten im Verkehrshaushalt und wichtige Budgets für den ÖPNV und seine Betreiber. Eine weitere Frage ist, wie wir künftig die Mobilität in den Städten und die Multimodalität gestalten wollen. Immer wieder hört man Stimmen, die Lösungen bevorzugen, die nur vom Auto her gedacht sind. Ein anderes Thema ist die Vergabe von öffentlichen Dienstleistungsaufträgen. Hier haben wir erreicht, dass es weiterhin möglich ist, den ÖPNV in größeren Städten direkt zu vergeben. Andernfalls hätte das große Verwerfungen in der ÖPNV-Landschaft nach sich gezogen. Aber immer wieder gibt es Versuche, dieses Thema zurückzudrehen.

Weniger gut lief es aus Sicht der Verkehrsunternehmen bei der kürzlich beschlossenen Clean-Vehicles-Richtlinie, die nationale Quoten bei der Beschaffung von Neufahrzeugen vorgibt ...

» Diese Richtlinie brauchen wir nicht. Denn die Verkehrsunternehmen engagieren sich ohnehin schon stark bei der Modernisierung ihrer Flotten. Weil die Europapolitik die Autoindustrie beim Thema Klimaschutz und Luftreinhaltung nicht in die Pflicht nehmen wollte, kommen nun besondere Belastungen auf den bereits heute umweltfreundlichen ÖPNV zu. Bis Ende 2025 müssen nun 45 Prozent unserer Neufahrzeuge und bis Ende 2030 dann 65 Prozent über einen sauberen Antrieb im Sinne der Richtlinie – also alternativ statt Diesel – verfügen. Immerhin konnten wir die EU bewegen, auf lokale Beschaffungsquoten zu verzichten und stattdessen nationale Quoten einzuführen. Die Europapolitik darf nicht nur A, sondern muss jetzt auch B sagen – und zusätzliche Fördermöglichkeiten für die Verkehrsunternehmen schaffen.

UITP: Ein Deutscher leitet das EU-Komitee

Die UITP vertritt weltweit die Interessen des öffentlichen Nahverkehrs. 1.600 Mitgliedsunternehmen und -organisationen aus 99 Ländern gehören dem Verband an. Europaweit sind unter dem Dach der UITP mehr als 450 Verkehrsunternehmen und Aufgabenträger organisiert. Zu den Mitgliedern gehören zudem politische Entscheider, wissenschaftliche Institute und Vertreter der Industrie. In ­Europa arbeiten mehr als zwei Millionen direkt Beschäftigte im Bereich ÖPNV; auch Ulrich Weber. Hauptberuflich leitet er die Stabsstelle Fördermittel/EU-Themen bei der Stuttgarter Straßenbahnen AG und ist Geschäftsführer der VDV-Landesgruppe Baden-Württemberg. 2017 wurde Ulrich Weber für zwei Jahre zum Vorsitzenden des EU-Komitees der UITP gewählt. Im Mai kandidiert er für die Wiederwahl in dieses Ehrenamt.

www.uitp.org

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