In die Spur zurückfinden

Das Coronavirus bestimmt die neue Normalität im ÖPNV. Jetzt geht es darum, die wirtschaftlichen Schäden zu begrenzen, Fahrgäste zurückzugewinnen und die vor der Krise eingeleitete Verkehrswende voranzutreiben.

So gut wie möglich Abstand halten, Mund-Nasen-Bedeckung tragen, Hygiene-Regeln rigoros befolgen und größere Menschenansammlungen meiden: Nachdem die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus gelockert und der Betrieb von Bussen und Bahnen wieder hochgefahren wurde, ist die neue Normalität unter Corona-Bedingungen im ÖPNV angekommen.

Für die Fahrgäste sind die Neuerungen gut sichtbar. Abtrennungen zu Busfahrerinnen und Busfahrern, deutliche Hygienehinweise, aber auch Maßnahmen im Hintergrund wie verkürzte Reinigungsintervalle und Desinfektionen von Fahrzeugen oder separierte Schichten in Leitstellen und Werkstätten dienen dem Infektionsschutz. Alles mittlerweile gelebter Alltag in Zeiten der Pandemie. Mit deren wirtschaftlichen Auswirkungen haben die Verkehrsunternehmen jedoch noch auf unbestimmte Zeit zu kämpfen. Klar ist: Nachdem die Fahrgastzahlen im ÖPNV mehr als 20 Jahre lang kontinuierlich gestiegen sind – im Jahr 2019 nutzten 10,4 Milliarden Menschen Busse und Bahnen – ist der Einbruch da.

Die Trennscheibe zwischen Kunde und Fahrpersonal gehört jetzt öfter zum Bild in Bussen - wie hier beim Bielefelder Verkehrsunternehmen Mobiel. Dort dauert der Einbau in die 125 Fahrzeuge fünf Wochen. In nachgerüsteten Bussen werden wieder Vordertüren zum Einstieg geöffnet und Tickets verkauft.

Bei einer langsamen Rückkehr zur Normalität, die vor allem nach den Sommerferien an Dynamik gewinnt, hätten die Verkehrsunternehmen bis Jahresende einen Verlust von etwa fünf Milliarden Euro zu verkraften, so ein Szenario des VDV. Sollte die Normalisierung länger dauern und sollten Abo-Kunden vermehrt auf Kulanzregelungen zurückgreifen, kalkuliert die Branche den Verlust auf etwa sieben Milliarden Euro. Größenordnungen, die die Verkehrsunternehmen ohne Unterstützung nicht auffangen können. Von daher begrüßt der VDV den gemeinsamen Vorschlag aller Landesverkehrsminister an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, einen Rettungsschirm für den Nahverkehr von mindestens fünf Milliarden Euro aufzuspannen. „Jetzt kommt es darauf an, die Branche so mit finanziellen Mitteln auszustatten, dass sie ihre systemrelevante Funktion – die nachhaltige Aufrechterhaltung eines guten und ausreichenden Angebots – ­gewährleisten kann“, betont VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff.

Die finanzielle Lage von Verkehrsunternehmen und Verbünden ist zunehmend dramatisch.

Oliver Wolff,
VDV-Hauptgeschäftsführer

Die finanzielle Lage der Verkehrsunternehmen und der Verbünde bezeichnet der VDV-Hauptgeschäftsführer als „zunehmend dramatisch“. Seit Beginn der Krise hielten Busse und Bahnen im Schnitt 80 Prozent des regulären ­Angebots aufrecht – bei maximal 30 Prozent des sonst üblichen Fahrgastaufkommens. Im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) hatten die Liquiditätsengpässe zwischenzeitlich existenzbedrohende Ausmaße angenommen. Während in Absprache mit den Bundesländern und den Aufgabenträgern das SPNV-Angebot im März um rund neun Prozent und im April um fast ein Viertel reduziert wurde, blieb es in einigen Bundesländern auf dem Vorkrisen-Niveau. Da die Fahrkartenverkäufe zurückgegangen sind und Fahrgeldeinnahmen aus der Einnahmeaufteilung der Verkehrsverbünde beziehungsweise der Tarifkooperation mit der Deutschen Bahn gesunken sind, fehlen den Verkehrsunternehmen akut die Mittel – bei weiterlaufenden Kosten ohne Gegenfinanzierung der Finanzlücke.

Kaum Kurzarbeit in der Branche

Auch im städtischen Nahverkehr wurde im Schulterschluss mit den Aufgabenträgern das Angebot im März um rund zwölf und im April um rund 20 Prozent zurückgefahren. „Die ÖPNV- und SPNV-Unternehmen haben auch auf ausdrücklichen Wunsch der Politik von Beginn der Epidemie an in sehr hohem Maße das Verkehrsangebot weiter aufrechterhalten, damit die Menschen, die Mobilität benötigen, an ihren Arbeitsplatz kommen konnten und das ganze Land weiter in Bewegung blieb“, sagt Oliver Wolff: „Gleichzeitig haben wir mit dem umfassenden Fahrplanangebot ganz überwiegend auch für ausreichende Abstände zwischen den Fahrgästen Sorge tragen können.“ Obwohl die nötigen Voraussetzungen vorgelegen hätten, hat die Branche so gut wie keine Kurzarbeit angemeldet und so die Bundeskasse geschont.

So viel Daseinsvorsorge und Systemrelevanz haben ihren Preis. Auf der Basis von Rückmeldungen aus den Verkehrsunternehmen und Verbünden geht der VDV davon aus, dass die Branche im März und April monatlich bis zu einer Milliarde Euro an Fahrgeldeinnahmen verloren hat. Zu den hohen Einnahmeausfällen haben auch die Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit von Fahrpersonal und Fahrgästen beigetragen: Da der vordere Einstieg in Linienbussen geschlossen wurde, entfielen der Ticketverkauf beim Fahrer und die Kontrollen. Als auf Wunsch der Politik der Betrieb auf das volle Angebot wieder hochlief, konnten auch eventuelle temporäre Kosteneinsparungen nicht mehr gegengebucht werden. Ohne entsprechenden Ausgleich auch künftiger Verluste besteht das Risiko, dass die Branche das Verkehrsangebot kürzen muss und ihren Beitrag zum Klimaschutz nicht gewährleisten kann.

Die Verkehrswende bleibt das unter allen Umständen
zu erreichende Ziel im ­Mobilitätssektor.

Ingo Wortmann, VDV-Präsident

Die Auswirkungen sind gravierend, die Situation so nie dagewesen: Im März und April verzeichneten die Verkehrsunternehmen im ländlichen Raum, wo hauptsächlich Schüler den ÖPNV nutzen, 90 Prozent und in den Städten zwischen 60 und 80 Prozent weniger Fahrgäste. Je länger die Einschränkungen dauerten, desto häufiger waren neben dem Verkauf von Einzelfahrscheinen auch die Zeitkarten beziehungsweise Abos von Kündigungen betroffen. Kulanzregelungen werden erarbeitet und angewendet.

Auch die Güterbahnen leiden massiv - an wegbrechenden Aufträgen. Zwar gibt es vielversprechende und medienwirksame Neuverkehre mit Nudeln und Hygieneartikeln, aber diese können den Verlust an Transporten etwa durch den Produktionsstopp in der Autoindustrie nicht wettmachen. „Nach unseren Berechnungen fehlen der Branche coronabedingt bereits rund 900 Millionen Euro“, berichtet Dr. Martin Henke, VDV-Geschäftsführer für den Bereich Eisenbahn. Dabei wird der Schienengüterverkehr in der Krise seiner zentralen Rolle, zuverlässig Lebensmittel, Rohstoffe und andere Güter zu liefern, gerecht. Gleichzeitig leistet er einen Beitrag, die internationale Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Denn im Schienengüterverkehr werden große Volumina im Vergleich zum Lkw von einer sehr kleinen Anzahl Personen transportiert.

ÖPNV und Güterverkehr: Liquidität
sichern und Unternehmen stabilisieren

Im April machten VDV, Allianz pro Schiene, BAG-SPNV, BDO, Mofair, NEE und VPI diese gemeinsamen Vorschläge.

Vorschläge zur Sicherung der Liquidität

Vor diesem Hintergrund hat die Branche Bund und Ländern eine Reihe von Vorschlägen gemacht, wie die Liquidität im öffentlichen Personenverkehr sowie im Schienengüterverkehr gesichert und die Unternehmen wirtschaftlich stabilisiert werden können (siehe Infografik). Für den Personennahverkehr sehen die Konzepte unter anderem eine Öffnung, Aufstockung und Vorabzahlung der Regionalisierungsmittel vor. Auch die ungekürzte Weiterzahlung der Bestellerentgelte wird empfohlen. Für den Schienengüterverkehr wird ein Stabilitätsfonds oder auch eine zeitlich befristete Aufstockung der Trassenpreisförderung von zurzeit 47 auf bis zu 100 Prozent vorgeschlagen. Zudem könnte den Eisenbahn-Unternehmen dadurch geholfen werden, Belastungen durch Energiesteuern und Umlagen auszugleichen.

Neben den wirtschaftlichen Auswirkungen steht die Branche vor weiteren Herausforderungen – einer Image- und Vertrauenskrise. Der werden die Verkehrsunternehmen und der VDV kurzfristig mit einer Aufklärungskampagne entgegentreten. Noch im Mai riet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, keine öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen und auf Reisen – auch innerhalb Deutschlands – zu verzichten. Dem gegenüber stehen Erkenntnisse aus Österreich. Die Epidemiologen der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) konnten einem Medienbericht zufolge keine Ansteckungen im öffentlichen Verkehr und in Geschäften nachweisen. Allerdings seien solche Infektionen schwer aufzuspüren und die Erkenntnisse nur bedingt auf Deutschland übertragbar. „Die Verkehrsunternehmen tun alles Notwendige, um die Fahrzeuge häufig und angemessen zu reinigen“, erläutert VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff: „Wenn die Fahrgäste sich entsprechend der Anforderungen des Robert-Koch-Institutes verhalten – also Abstand sowie Hygieneregeln einhalten, Mund-Nasen-Bedeckung tragen –, dann ist der ÖPNV kein Ort mit erhöhtem Infektionsrisiko.“

Im Nah- und Fernverkehr (Foto o.) sind die Fahrgastzahlen eingebrochen.
In allen Bundesländern ist das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im
ÖPNV Pflicht (Foto u.). Gleiches gilt in den Fernverkehrs- und Regionalzügen
der Deutschen Bahn.

Letztlich haben es die Fahrgäste bis zu einem gewissen Punkt selbst in der Hand: sich in den Fahrzeugen verteilen, mehr Zeit einplanen und nicht kurz vor Abfahrt zur Haltestelle kommen. Bei den Bahnen gilt: Es müssen nicht alle in den ersten oder letzten Wagen einsteigen. Im Schüler- und Berufsverkehr muss die Nachfrage weiterhin umsichtig gesteuert werden, um die Auslastung des ÖPNV in Spitzenzeiten besser zu verteilen. Die Entscheidung der Behörden, mit einem rollierenden Unterricht die Schulen schrittweise zu öffnen, leisteten dazu ebenso einen Beitrag wie Arbeitgeber und Pendler, die weiterhin auf das Arbeiten von zu Hause oder flexible Arbeitszeiten setzen.

Im Kampf gegen das Virus und die Pandemie-Folgen für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze sind die Themen Klimaschutz und Verkehrswende auf der politischen Agenda vorerst nach hinten gerutscht. „Die Verkehrswende bleibt das unter allen Umständen zu erreichende Ziel im Mobilitätssektor“, bekräftigt VDV-Präsident Ingo Wortmann. Denn während und nach der Coronakrise dürfen die langfristigen Ziele der Klima- und Verkehrspolitik nicht aus dem Blick geraten. Wenn in den kommenden Wochen über Konjunkturmaßnahmen geredet wird, müssen für diese Klimafreundlichkeit und Nachhaltigkeit ein entscheidendes Merkmal sein. Denn die Auswirkungen der Klimakrise dürften voraussichtlich noch schwerwiegender sein als die der Coronakrise.

Drei Fragen an

Joachim Berends, VDV-­Vizepräsident für den Bereich Schienengüter­verkehr

Herr Berends, während des Lockdowns hat der Schienengüterverkehr (SGV) seine Stärken und seine Systemrelevanz unter Beweis gestellt. Was muss die Branche jetzt tun, damit der SGV auch nach Corona nachhaltig davon profitiert?
» Joachim Berends: Der SGV konnte in der Coronakrise nicht nur eindrucksvoll unter Beweis stellen, dass er systemrelevant ist, sondern auch, dass er äußerst flexibel auf die kurzfristigen Anforderungen des Marktes reagiert. Ohne den SGV wäre Europa bei der Versorgung der Menschen in schwieriges Fahrwasser geraten – ist es doch gelungen, die Grenzschließungen und langwierigen Abfertigungen mit einem leistungsfähigen SGV zu kompensieren und die Versorgung der Bevölkerungen so sicherzustellen. Die Eisenbahn kann mit ihrer Leistungsfähigkeit und als klimafreundlichstes Landverkehrsmittel eine nachhaltige Entwicklung im Bereich der schienenaffinen Güter bewirken. Ein guter Vertrieb, der das bei den Kundenkontakten weiter forciert, ist neben einer weiterhin zuverlässigen und qualitativen Transport- und Logistikleistung erforderlich. Wir müssen alle Maßnahmen im Rahmen des Masterplans und des Programms „Zukunft Schienengüterverkehr“ national wie international konsequent umsetzen, damit die weitere positive Entwicklung gelingt. Tue Gutes und rede darüber: Das sollten wir jetzt gemeinsam voranbringen.

Wie können Warengruppen, die bisher als nicht sonderlich schienen­affin galten – zum Beispiel Lebensmittel – dauerhaft für den SGV gewonnen werden?
» Nur der weiterhin konsequente Ausbau der Schieneninfrastruktur wird der Leistungsfähigkeit der Schiene zugutekommen. Daneben müssen auch wir uns in unseren Prozessen den Anforderungen des Marktes stellen. Die jetzt aufgezeigten Chancen, neue Produkte für unseren Schienengüterverkehr zu gewinnen, müssen konsequent auch durch gezielte staatliche Maßnahmen wie der weiteren Reduktion der Schienenmaut auch auf Strecken der nichtbundeseigenen Eisenbahnen, aber auch durch die Freistellung des Sektors bei der EEG-Umlage erreicht werden. Eine Besserstellung des Sektors Schienengüterverkehr aufgrund seiner Klimafreundlichkeit, die Verbesserung der Produktivität, erhebliche Investitionen in die Schieneninfrastruktur und Digitalisierung sowie die Befreiung von überdimensionierten staatlichen Kostenbelastungen schaffen die Entwicklungspotenziale für einen zukunftsfähigen Schienengüterverkehr.

Wie kann die Politik den Schienengüterverkehr jetzt stützen?
» Die Politik sollte ihren Worten Taten folgen lassen. Das geschieht zum Teil schon durch erste Förderprogramme oder die Halbierung der Schienenmaut. Aber auch die Digitale Automatische Kupplung und eine konsequente Politik der Verlagerung von der Straße auf die Schiene ist das Gebot der Stunde. Dafür müssen auch konsequente Umschichtungen im Haushalt vorgenommen werden, die dieses Ziel vollständig erkennen lassen. Hier gilt jetzt für alle, die politische Verantwortung tragen: Wir tun, was wir sagen, und wir sagen, was wir tun. Und das ist das Erreichen des Ziels, bis 2030 den Marktanteil der Schiene auf 25 Prozent deutlich zu erhöhen.

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