Infrastruktur
01.11.2019
Titelstory

Grunderneuerung im Untergrund

Vielerorts sind die Stadtbahn- und U-Bahnsysteme in die Jahre gekommen. Sie brauchen eine umfassende Grunderneuerung, damit sie fit für die Verkehrswende werden. Kommunen und Verkehrsunternehmen hoffen, dass sie für die millionenschweren Projekte künftig mehr Mittel aus dem vor der Novellierung stehenden Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) erhalten. Die Grunderneuerung soll künftig GVFG-förderfähig werden. Ein aktuelles Leuchtturmprojekt: die Grund­erneuerung des U-Bahnhofs „Sendlinger Tor“ in München.

Sanierung? Christoph Schaller, Projektleiter der Stadtwerke München (SWM) für die Baustelle gewissermaßen im Keller des historischen Stadttors, hat dafür nur ein müdes Lächeln. „Hier bleibt kein Stein auf dem anderen, das ist schon ein ganzes Stück mehr: Die Station wird komplett entkernt, neu aufgebaut und um große Teile erweitert. Hier am Sendlinger Tor entsteht ein völlig neu gestalteter Knotenpunkt im Netz der Münchner Verkehrsgesellschaft MVG.“ Das bedeutet nicht nur ein Austausch bis zur letzten Fliese, sondern auch umfangreiche Baumaßnahmen, die die Fahrgastströme neu ordnen und verbessern. Zudem wird die Technik aus den 1960er- und 1970er-Jahren vollständig ersetzt.

Ein 150-Millionen-Euro-Projekt – ein Mammutvorhaben, das die Station „Sendlinger Tor“ bis 2022 erklärtermaßen zu nicht mehr und nicht weniger als einem „Zukunftsbahnhof” machen soll. Rund 250.000 Fahrgäste steigen hier täglich in Bahnen und Busse ein, um oder aus. Sechs U-Bahn-, fünf Tram- und zwei Buslinien sorgen für ein Verkehrsaufkommen, das sich gegenüber der ursprünglichen Planung der Station vor vier Jahrzehnten heute schon verdreifacht hat. Schaller rechnet vor dem Hintergrund von Klimaschutz und Verkehrswende mit weiteren Steigerungen: „Wir gewinnen zurzeit jedes Jahr zwei Prozent mehr Fahrgäste. Deshalb nutzen wir jeden Quadratzentimeter, um mehr Platz zu schaffen.”

Wir gewinnen zurzeit jedes Jahr zwei Prozent mehr Fahrgäste. Deshalb nutzen wir jeden Qudratzentimeter, um mehr Platz zu schaffen.

Christoph Schaller, Projektleiter bei den Stadtwerken München (SWM)

Der Dreh mit dem Treppendreh

Zentrale Aufgabe der Grunderneuerung ist es, diese Fahrgastströme besser zu kanalisieren und den Brandschutz zu optimieren. Bisher gibt es in den Zeiten des Hochbetriebs immer wieder Rückstaus bis an die Bahnsteigkanten, weil sich die Menschen auf den Wegen von den unterschiedlichen Bahnsteig-Ebenen der U-Bahn-Linien buchstäblich in die Quere kommen. Um das künftig zu vermeiden, bekommt der Bahnhof eine funktional komplett überarbeitete, neu angeordnete Innenarchitektur. Der besondere Dreh dabei ist der Treppendreh: Auf- und Abgänge im zentralen Bereich zwischen den Bahnsteig-Ebenen werden so versetzt angeordnet, dass die Fahrgäste künftig auf unterschiedlichen Wegen unterwegs sind und mehr Platz haben. In der untersten Ebene, wo die U-Bahn-Linien U 1 und U 2 die Bahnsteige in getrennten parallelen Röhren erreichen, sind neben der vorhandenen Verbindung beider Bahnsteige nach oben zwei zusätzliche Erweiterungsbauwerke, die sogenannten Querschläge, geschaffen worden: zwei Verbindungstunnel mit neuen Treppen, die von den Zu- und Abgängen zum Bahnsteig der U 3 und U 6 ein Stockwerk höher völlig getrennt sind.

Großbaustelle am Sendlinger Tor: Die Dimensionen zeigen, dass „kein Stein auf dem anderen” bleibt.

Diese Querschläge sind im Rohbau fertig. Es war ein komplexes und kompliziertes Vorhaben: Die beiden vorhandenen Tunnelröhren der U-Bahn mussten für die neuen Verbindungstunnel an den entsprechenden Stellen seitlich vorsichtig aufgebrochen und mit reichlich Betonmasse in ihrer Statik gesichert werden – weit unter dem Grundwasserspiegel, der nur durch ausgeklügelte Vereisung während der Bauarbeiten im Zaum gehalten werden konnte. Und das alles „unter dem rollenden Rad”, betont Schaller: „Wir müssen stets sicherstellen, dass der Betrieb so wenig wie möglich eingeschränkt wird. Auf der grünen Wiese wäre ein solches Projekt in viel kürzerer Zeit zu realisieren.” Am Ende funktionierte es reibungslos.

Ergänzende Maßnahmen für wachsende Fahrgastzahlen sind Erweiterungen bestehender Aus- und Eingänge. Heute bewegen sich alle Fahrgäste über einen zentralen Bereich. Den kann man künftig ganz meiden. Über den Bahnsteig-Ebenen, unmittelbar unter der Straße, entsteht ein großzügiges Zwischengeschoss: eine weitläufige Halle, in die alle Zugänge von der Oberfläche münden. Hier sollen zusätzliche Verkaufsflächen geschaffen werden, nicht zuletzt um zusätzliche Einkünfte für die Finanzierung des ÖPNV zu erzielen.

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Bahnsteige werden leicht erhöht

Natürlich sollen sich die MVG-Kunden im Zukunftsbahnhof nicht nur gut zurechtfinden, sondern auch wohlfühlen. „Im Laufe der Jahre ist die Verkehrsstation naturgemäß gealtert und unansehnlich geworden”, beschreibt Schaller. „Für die Zukunft versprechen wir eine attraktive Gestaltung mit modernen Elementen und einem zeitgemäßen Licht- und Farbkonzept.” Und mit konsequenter Barrierefreiheit: Dazu werden im Rahmen des Projekts zum Beispiel die Bahnsteige leicht erhöht, um den stufenlosen Einstieg auch für mobilitätseingeschränkte Fahrgäste zu ermöglichen.

„Das Projekt macht in seiner Gesamtheit deutlich, dass es nicht etwa um eine Renovierung und Sanierung eines vier Jahrzehnte alten U-Bahnhofs geht. Es ist vielmehr ein Ausbau, der in weiten Teilen einem Neubau gleichkommt.“ So charakterisiert Michael Richter, bei den SWM für die Projekt- und Investitionssteuerung im Bereich Mobilität verantwortlich, die Bauaufgabe. Es ist das bislang aufwändigste Projekt der Stadtwerke-Tochter MVG. Weitere werden und müssen folgen. Richter schätzt, dass für die Grunderneuerung des U-Bahn-Netzes allein in München in den nächsten fünf Jahren Investitionen in einer Größenordnung von circa 600 Millionen Euro erforderlich werden.

Drehscheibe und Knotenpunkt: Im Hauptgeschoss wird es zu Spitzenzeiten heute schon eng.

Die Baustelle Sendlinger Tor wird weitgehend aus Eigenmitteln der Stadtwerke mit finanzieller Unterstützung durch den Freistaat Bayern bezahlt. Für die Zukunft erhofft man sich nicht nur an der Isar, sondern bundesweit bei den Stadtbahn- und U-Bahn betreibenden Verkehrsunternehmen die bislang versagte Unterstützung aus dem Bundeshaushalt für Grund­erneuerungs-Projekte wie am Sendlinger Tor. Die Verkehrsbranche wartet ungeduldig auf die Novellierung des GVFG – des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes. Es stellt bislang seit Jahrzehnten jährlich konstant 333 Millionen Euro für den Neubau schienengebundener Verkehrs­infrastruktur aus dem Verkehrs­etat des Bundes zur Verfügung. „Die Politik hat im Koalitionsvertrag vereinbart, diese Mittel auf eine Milliarde Euro jährlich aufzustocken und weiterhin dynamisch zu gestalten“, so Meinhard Zistel, Finanzierungsexperte beim VDV: „Das ist mehr als sinnvoll angesichts des Investitionsrückstaus im Verkehrssektor und erheblicher Baupreissteigerungen.” Der Investitionsrückstau bewegt sich in Höhe eines hohen einstelligen Milliardenbetrags. Laut Klimapaket der Groko sollen die GVFG-Mittel ab 2025 auf zwei Milliarden Euro jährlich erhöht werden.

Ein Problem wird nach langer Zeit gelöst: Fließen die GVFG-Mittel bislang nur in Neu- und Ausbau-Projekte, so sollen sie nach einem Beschluss der Verkehrsministerkonferenz künftig auch in die Grunderneuerung bestehender Anlagen fließen dürfen. „Die Politik erkennt, dass die Ertüchtigung 30, 40 Jahre alter Schieneninfrastruktur nicht eine bloße Sanierung mit ein paar Eimern Farbe und ein paar neuen Drähten und Schaltern ist“, so Zistel. Vielmehr gehe es darum, bestehende Anlagen auf den Stand moderner Verkehrstechnik mit all ihren Innovationssprüngen zu bringen, insbesondere gehe es auch um die Digitalisierung. Meinhard Zistel: „Eine derartige Grunderneuerung ist so komplex wie ein Neubauvorhaben – die Baustelle Sendlinger Tor zeigt das allemal.”

Mehr Informationen finden


Sie online unter:
www.bit.ly/sendlinger_tor

GVFG: Grunderneuerung soll geFördert werden 

  • Für eine erfolgreiche Verkehrswende im Zeichen des Klimaschutzes müssen Busse und Bahnen des ÖPNV mehr Kapazität und Qualität bieten. Der Ausbau der Systeme erfordert erhebliche finanzielle Anstrengungen von Bund und Ländern sowie eine gezielte, systematische und kontinuierliche Unterstützung der Kommunen als Aufgabenträger des ÖPNV.
  • Herausragende Bedeutung kommt dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) zu. Mit ihm fördert der Bund seit Jahrzehnten den Neu- und Ausbau von Verkehrsprojekten mit Teil-Finanzierungen. Die zur Verfügung stehenden Mittel von bislang 333 Millionen Euro im Jahr sollen nach dem Koalitionsvertrag auf Bundesebene ab 2020 verdoppelt, ab 2021 auf eine Milliarde verdreifacht und dynamisiert sowie nach dem Beschluss des Klimakabinetts ab 2025 auf zwei Milliarden Euro pro Jahr erhöht werden. Auf ihrer Herbstkonferenz haben die Verkehrsminister des Bundes und der Länder beschlossen, Projekte der Grunderneuerung von zahlreichen Stadtbahn- und U-Bahnnetzen in die Förderrichtlinien aufzunehmen. In ihrer Bedeutung für die Verkehrswende sind diese Maßnahmen ähnlich hoch zu bewerten wie Neubau-Vorhaben. Die Verkehrsbranche hatte diese Öffnung des GVFG lange gefordert.
  • Seit der Föderalismusreform I ab 2007 fließen die sogenannten Entflechtungsmittel vom Bund an die Länder. Mit Inkrafttreten der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen ab 2020 enden die Entflechtungsmittel. Die Länder erhalten pauschal mehr Umsatzsteuer vom Bund, die nicht zweckgebunden ist. Bei den Ländern ist bislang nicht einheitlich sichergestellt, dass diese Mittel auch künftig zweckgebunden in den ÖPNV und den kommunalen Straßenbau fließen (siehe Karte unten).
  • Für den ÖPNV stellt sich die Frage nach weiteren Finanzierungsquellen, insbesondere zweckgebundene Einnahmen aus Drittnutzerfinanzierungen für Maßnahmenpakete auf kommunaler Ebene zugunsten von Bussen und Bahnen.
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