Verkehrspolitik
09.11.2021

Mobilitätswende:

Jetzt ist ICE-Tempo gefragt

Die nächste Bundesregierung steht vor großen Aufgaben: 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Nur noch acht Jahre bleiben, um ein wesentliches Zwischenziel zu erreichen. Bis 2030 muss der Verkehrssektor seine Treibhausgasemissionen um 65 Prozent reduzieren. Nachdem die Politik in der zurückliegenden Legislaturperiode wichtige Weichen gestellt hat, muss die Mobilitätswende nun konkret angepackt werden – mit einem Beschleunigungsprogramm für die Schiene sowie weiteren kräftigen Investitionen in den Güterverkehr per Bahn, den ÖPNV und in die digitale Aufrüstung von Fahrzeugen.


Schneller planen und bauen, die Digitalisierung im Expresstempo vorantreiben, Vergaben klimagerecht modernisieren: Das sind die Kernpunkte, um das Schienensystem rascher zu modernisieren. Von der nächsten Bundesregierung fordern der Verband der Bahnindustrie in Deutschland (VDB) und der VDV ein Beschleunigungsprogramm für die Schiene, das sofort in Angriff zu nehmen ist. „Wenn wir das nötige Wachstum bei Bus und Bahn erreichen wollen, dann müssen wir gemeinsam mit der Politik in allen Bereichen deutlich schneller werden“, verdeutlicht VDV-Präsident Ingo Wortmann mit Blick auf Planungs- und Genehmigungsverfahren. Dabei erinnert er an den „Aufbau Ost“, mit dem Anfang der 1990er-Jahre die Modernisierung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern auf den Weg gebracht und die nach Wortmanns Einschätzung „sehr gut bewältigt“ wurde. „Ich sage aber auch: Wenn wir damals die Voraussetzungen im Planungsrecht gehabt hätten, wie wir sie heute haben, wären wir bei Weitem nicht so weit gekommen.“

Bei der derzeitigen Umsetzungsgeschwindigkeit laufe Deutschland Gefahr, die Stärkung der Schiene und die Klimaziele deutlich zu verfehlen, warnt VDB-Präsident Andre Rodenbeck. Es habe in der vergangenen Legislaturperiode bereits wichtige Entscheidungen für die Modernisierung und den Ausbau des Schienenverkehrs gegeben. Aber: „Wir müssen beim Tempo von Bummelzug auf Highspeed wechseln.“ Welche Vorschläge VDV und VDB machen, lesen Sie im Folgenden.

Weitere Infos und der Link zur gemeinsamen Erklärung von VDB und VDV unter: https://bit.ly/3uLEx1H

Die Zahlen liegen auf dem Tisch: drei Studien zur Mobilitätswende

1. ÖPNV

Roland Berger, Intraplan, Florenus: Der Nahverkehr benötigt bis 2030 zusätzlich 48 Milliarden Euro, um die Klimaziele zu erreichen.
www.vdv.de/oepnv-leistungskosten

2. Schienengüterverkehr

Roland Berger: 52 Milliarden Euro werden bis 2030 benötigt, damit der Marktanteil auf mindestens 25 Prozent steigt.
www.vdv.de/sgv

3. Volkswirtschaft

Conoscope Resulting Group, Kowid: Der ÖPNV erzielt bedeutende Effekte für Wertschöpfung, Beschäftigung und Einkommen.
www.vdv.de/daten-fakten

Schneller planen und bauen
Genehmigungsverfahren und Bauvorhaben müssen weiter beschleunigt werden. Dabei sollen verstärkt digitale Methoden angewandt werden, mit denen Projekte schneller geplant, ausgeführt und koordiniert werden. Mehr Personal in Planungs- und Genehmigungsbehörden ist dabei ebenso notwendig wie die stärkere Einbindung von Planungskapazitäten der Industrie. Bei der Verbesserung der Standardisierten Bewertung – einem volkswirtschaftlichen Bewertungsverfahren für Investitionen in die ÖPNV-Infrastruktur – müssen Klima- und Umweltschutz sowie die Daseinsvorsorge berücksichtigt werden. Grundsätzlich vonnöten ist ein neuer gesamtgesellschaftlicher Konsens für Infrastrukturprojekte, die dem übergeordneten Ziel des Klimaschutzes dienen.

Digitalisierung im Expresstempo vorantreiben
Deutschland muss sein gesamtes Schienennetz bis 2035 digitalisieren, wie es Bund, die Bahnindustrie und die DB im „Schnellläuferprogramm“ vereinbart haben, um das Schienennetz beschleunigt mit digitaler Leit- und Sicherungstechnik auszurüsten. Das erhöht die Kapazität, die Anzahl europäischer Verbindungen und den Klimaschutz. Deshalb muss die künftige Bundesregierung digitale Stellwerke sowie die Einführung des European Train Control Systems (ETCS) innerhalb des gesamten deutschen Schienennetzes samt der notwendigen On-Board-Units (OBUs) in Lokomotiven und Triebzügen fördern und die notwendigen Investitionen bereitstellen. Bis 2024 muss das gesamte Schienennetz mit dem 5-G-Standard abgedeckt sein, um ein attraktives und zeitgemäßes Reisen zu ermöglichen. Entscheidend dafür ist die Förderung von WLAN-Angeboten und innovativer Technologie für den Bahnbetrieb auf Basis von 5G. Für die Fahrgäste wird der ÖPNV durch digitales Ticketing attraktiver. Ziel muss es sein, mit einem elektronischen Ticket über Länder- und Verbundgrenzen hinweg fahren zu können. Digitale Mobilitätsplattformen ermöglichen neue Angebote, verkehrsträgerübergreifende Lösungen und datenbasierte Wartung. Voraussetzung ist ein fairer Austausch von Daten. Dafür sowie für die Sicherheit und den Schutz der Daten muss der Bund die Einführung fairer Regeln vorantreiben.

Vergaben klimagerecht modernisieren
Im Sinne einer klimagerechten Vergabekultur muss Deutschland in öffentlichen Ausschreibungen stärker auf nachhaltige Bewertungskriterien setzen. Ausschlaggebend soll nicht mehr nur der günstigste Anschaffungspreis sein. Vielmehr muss es auf Innovation, Kundenkomfort, Qualität, niedrige Lebenszykluskosten und Design ankommen. Für klimagerechte Vergaben in Deutschland muss sich die künftige Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern und weiteren Akteuren einsetzen, Erfahrungen besser bündeln und rechtssichere Vergabeverfahren gestalten. Ziel muss es sein, dass bei öffentlichen Ausschreibungen von Schienenprojekten künftig die nachhaltigen Vergabekriterien rechtssicher und wesentlich höher gewichtet werden können. So kommen Klima- innovationen für attraktive neue Mobilität mit null Emissionen schneller in den Markt – und in den Alltag der Menschen.


Drei Fragen an

Welches Potenzial vor allem in einem digitalisierten System Schiene steckt, erläutert Andre Rodenbeck (Foto), Präsident des Verbands der Bahnindustrie in Deutschland (VDB). Im Hauptberuf ist er CEO der Infrastruktur-Sparte bei Siemens Mobility.

Warum müssen die weitere Modernisierung, Digitalisierung und Elektrifizierung des Bahnverkehrs jetzt noch schneller werden?
» Andre Rodenbeck: Wenn wir in der heutigen Geschwindigkeit weitermachen, werden wir die Klimaziele 2030 verfehlen. Unsere Bilanzzahlen aus dem ersten Halbjahr 2021 zeigen nur einen leichten Anstieg der inländischen Auftragslage im Infrastrukturbereich. Dabei sollte der Auftragseingang bei den Verkehrsvorhaben der kommenden Jahre insbesondere im Inland deutlich höher liegen – immerhin müssen wir die Menge der zu digitalisierenden Stelleinheiten verfünffachen, um das Ziel 2035 zu erreichen.

Welches Potenzial für den Klimaschutz steckt in der digitalen Schiene?
» Das europäische Zugsicherungssystem ETCS steigert die Kapazität auf bestehenden Strecken um bis zu 30 Prozent. Automatisierte U-Bahnen sparen 30 Prozent Energie und erhöhen die Taktung, weil Züge in viel kürzeren Abständen sicher hintereinanderfahren können. Und wenn die Fahrgastverdopplung wie vorgenommen gelingt, spart die Schiene im Jahr 2030 allein 26 Millionen Tonnen CO2. Mit der weiteren Elektrifizierung der Strecken und dem Einsatz schon lieferbarer alternativer Antriebskonzepte wie Wasserstoff-, Batterie- und Hybridzüge ist die Schiene auf direktem Weg zum Ziel null Emissionen.

Was muss als Nächstes passieren?
» Die Mittel müssen schneller zur Verfügung stehen. Beispiel „Starterpaket Digitale Schiene Deutschland“: Die Gelder sind im Haushalt beschlossen, die notwendigen Finanzierungsvereinbarungen mit dem Bund stehen aber noch aus. Höhere Investitionen müssen die digitale Revolution jetzt ankurbeln. Bis 2035 werden für die gesamte Digitalisierung mindestens 32 Milliarden Euro notwendig sein. Dabei müssen Netz und Fahrzeuge unbedingt synchron umgerüstet werden. Smarte Strecken funktionieren nicht ohne digitalisierte Fahrzeuge – und andersherum. Noch im laufenden Jahr muss die Finanzierung für die digitale Ertüchtigung von Schienenfahrzeugen über sogenannte On-Board-Units stehen.

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