Im Krisenmodus zur
Mobilitätswende

Die Covidkrise droht die Klimakrise in den Hintergrund zu drängen. Dabei sind die Folgen des Klimawandels für Mensch und Umwelt, für Wirtschaft und Wohlstand voraussichtlich gravierender. In unzähligen Interviews, Statements und Talk-Show-Auftritten heißt es immer wieder: Aus der Pandemie lässt sich lernen. Beherzte Politik, ökonomische Lösungen und solidarisches Handeln können den Grundstein legen, dass der Umweltverbund von Bus und Bahn, Fahrrad und Fußgängern unverrückbar gestärkt wird. Wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft den Klimawandel genauso entschlossen bekämpfen wie derzeit das Virus, sind die Mobilitätswende und damit das Abwenden der Klimakrise sowie mehr Luftreinhaltung möglich.

3,5

MRD. Euro

Auf diese Summe beziffert ein Branchen-Szenario die für das Jahr 2021 zu erwartenden Verluste der Verkehrsunternehmen bei den Fahrgeldeinnahmen.


Maskenpflicht auch dann noch, wenn das Infektionsrisiko eingedämmt ist? Tilman Bracher, Leiter des Forschungsbereichs Mobilität am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), hat dieses Schreckgespenst kürzlich bei der Präsentation einer Studie der Denkfabrik Agora Verkehrswende an die Wand gemalt: „Wenn wir die Krisenerfahrungen jetzt nicht als Impuls für die Verkehrswende nutzen, dann wird die Atemschutzmaske zu unserem ständigen Begleiter werden – nicht gegen die Pandemie, sondern gegen die Umweltverschmutzung.“ Der Titel der Studie gibt den Weg für die maskenfreie Zukunft vor: „Ein anderer Stadtverkehr ist möglich“.

Auch Volker Deutsch, Fachbereichsleiter Integrierte Verkehrsplanung beim VDV, warnt davor, die Klimakrise zu ignorieren: „Die Herausforderungen werden nach Corona dieselben sein wie vorher, sobald sich die Pendler- und Verkehrsströme normalisieren. Deshalb muss weiter kontinuierlich an einer Politik der Mobilitätswende gearbeitet werden.“ Ein aktuelles Positionspapier des Branchenverbandes listet detailliert Maßnahmen für eine „Angebots- und Infrastrukturoffensive“ auf: „Kurs halten: Bus & Bahn bleiben Motor der Mobilitätswende.“
Timm Fuchs, Beigeordneter beim Deutschen Städte- und Gemeindebund, macht deutlich, dass der Ausweg aus der Klimakrise zwar Fördermillionen des Staates benötigt, aber auch jeden Einzelnen fordert: „Ziel muss ein Mehr an Akzeptanz bei der Bürgerschaft für ein verbrauchs-, ausstoß- und nutzungsorientiertes Abgabensystem sein.“ Es gehe um einen „Systemwechsel“.

Wir müssen noch mehrere Monate mit niedrigen Fahrgastzahlen und damit verbundenen Einnahmeausfällen rechnen.

Anke Rehlinger,
saarländische Ministerin für Wirtschaft, Arbeit, Energie und Verkehr und bis Ende 2020 Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz

Systemrelevanz beweist der ÖPNV auch in Coronazeiten. Auch wenn mehr Menschen Fahrrad oder Auto fahren, bleiben Busse und Bahnen mit nahezu vollem Fahrplanangebot Rückgrat der Mobilität. Gestützt von der Politik: Doch der „Rettungsschirm” von Bund und Ländern mit fünf Milliarden Euro zum Ausgleich der dramatischen Einnahmeverluste bei den Verkehrsunternehmen wird nicht reichen. Die aktuelle Pandemielage, Kurzarbeit und das Arbeiten von zu Hause aus sowie weniger Reiseanlässe mangels Veranstaltungen und Tourismus werden auch im kommenden Jahr weiter zu erheblich niedrigeren Fahrgeldeinnahmen führen. Ein Branchen-Szenario erwartet Verluste von 3,5 Milliarden Euro im Jahr 2021. Da die Mittel des derzeit aufgespannten Schirmes bis etwa in den April 2021 reichen werden, müssten Bund und Länder weitere zwei Milliarden Euro ausgleichen. Das ist der Politik bewusst. Beispielsweise hat das Saarland bereits erklärt, den Rettungsschirm für das kommende Jahr zu verlängern. „Wir müssen noch mehrere Monate mit niedrigen Fahrgastzahlen und damit verbundenen Einnahmeausfällen rechnen”, sagte Verkehrsministerin Anke Rehlinger (SPD) gegenüber dpa.

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Weniger Kontakte sind das oberste Ziel

Selbst wenn Impfstoffe bald zur Verfügung stehen, rechnet VDV-Präsident Ingo Wortmann mit einer Markterholung erst gegen Ende 2021: „Was wir anbieten können, sind ausreichende Bus- und Bahnangebote für einen stabilen ÖPNV-Betrieb und flexiblere Ticketangebote für geänderte Mobilitätsanforderungen unserer Fahrgäste. Darüber hinaus werden wir auch weiterhin in Hygienemaßnahmen für die ohnehin schon geringen Infektionsrisiken im ÖPNV investieren.“ Die Fortführung des teilweisen Lockdowns bis in den Januar hinein wird nach Einschätzung der Verkehrsbranche die im September 2020 schon wieder auf 80 Prozent des Vorjahres angestiegenen Fahrgastzahlen bis auf Weiteres erneut bei 50 bis 60 Prozent stagnieren lassen.

Dass Busse und Bahnen keine gefährlichen Brennpunkte von Covid-19 sind, hat sich weltweit in unabhängigen wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt, die auf der Website der Branchenkampagne #BesserWeiter nachzulesen sind. Auch der seit November 2020 verhängte Teil-Lockdown zielt nicht unmittelbar auf den ÖPNV. VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff weist darauf hin: „Bei den Beschlüssen der Regierungschefs geht es nicht um die Frage, wo eine erhöhte Ansteckungsgefahr droht. Es geht darum, vermeidbare Kontakte soweit wie möglich zu unterlassen, um die Ausbreitung der Pandemie zu verlangsamen.“

Wo der VDV an der Zukunft der Mobilität arbeitet

Im Schatten der Pandemie ist die Arbeit an der Zukunft der Mobilität in den VDV-Gremien unverändert weitergegangen. Drei Beispiele aus den zurückliegenden Monaten:

  • Der Lenkungskreis „Autonomes Fahren“ legte kürzlich ein Eckpunktepapier zur Diskussion um den Rechtsrahmen für fahrerlose Mobilität vor. Er betonte den Anspruch der Branche, automatisierte Verkehrsangebote in die örtlichen ÖPNV-Systeme zu integrieren.
  • Für den „Green Deal“ der EU empfahl der Verband in einer Untersuchung, Preise und Wettbewerbsbedingungen so zu gestalten, dass sie die externen Umweltkosten der einzelnen Verkehrsträger realistisch widerspiegeln.
  • Ein großes mediales Echo fand im Sommer die aktualisierte Untersuchung zur Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken. Mehr als 200 Verbindungen mit über 4.000 Kilometern Gesamtlänge könnten knapp 300 Städte und Gemeinden mit drei Millionen Einwohnern zurück an die Schiene bringen.

Feldforschung zu Infektionsrisiken

Bei den Beschlüssen der Regierungschefs geht es nicht um die Frage, wo eine erhöhte Ansteckungsgefahr droht. Es geht darum, vermeidbare Kontakte soweit wie möglich zu unterlassen.

Oliver Wolff,
VDV-Hauptgeschäftsführer

Die Maskenpflicht, das permanente Lüften durch Türöffnungen und Klimaanlagen, die relativ kurzen Aufenthaltszeiten in den Fahrzeugen und die Tatsache, dass die Fahrgäste wenig sprechen, minderten deutlich das Infektionsrisiko. „Alle Fahrgäste, die auch während des Lockdowns auf den Nahverkehr angewiesen sind, können diesen ohne Weiteres nutzen“, bekräftigt Wolff. Gleichwohl sollen die Infektionsrisiken im öffentlichen Verkehr jetzt im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums von einer Forschungsgruppe unter Führung der Fraunhofer-Gesellschaft noch einmal in einer „Felduntersuchung” präzisiert werden. Vorgesehen sind Messfahrten in Zügen vom ICE bis zur S-Bahn sowie in Straßenbahnen, U-Bahnen und Bussen. Raumklima-Messungen in den Fahrzeugen sollen Coronaviren identifizieren und am Computer entwickelte Strömungs- und Ausbreitungsmodelle verifizieren – in der Luft und auf Oberflächen wie etwa Sitzen, Haltestangen oder Bedienknöpfen. Schon in wenigen Wochen sollen Ergebnisse vorliegen, die – so erwarten die Verkehrsunternehmen – die bisherigen Erkenntnisse von weithin risikoarmen Fahrten im Nah- und Fernverkehr untermauern.

Schülerverkehr: Mit einem erweiterten Angebot soll mancherorts für mehr Abstand auf dem Weg zur Schule gesorgt werden. Derzeit stehen in vielen Regionen Schülerinnen und Schüler dicht gedrängt in Bussen, Stadtbahnen und Zügen.

Speziell für die Verkehrsspitzen im Schülerverkehr empfiehlt der VDV den Behörden, die Anfangszeiten für den Unterricht zu staffeln. Dann würden sich die Schüler zu verschiedenen Zeiten auf die Schulbusse verteilen, vor allem in den Städten. Beispielsweise in der Stadt Herne im nördlichen Ruhrgebiet, die in Nordrhein-Westfalen zu den Brennpunkten mit hohen Infektionszahlen zählte, wurde das bereits in die Tat umgesetzt. In den 17 weiterführenden Schulen wurde der Unterrichtsbeginn je Jahrgangsstufe von 7.45 bis 8.45 Uhr im Viertelstunden-Abstand gestaffelt. Die Einsatzbusse des örtlichen Nahverkehrsunternehmens, der Straßenbahn Herne - Castrop-Rauxel GmbH (HCR), fahren am Morgen entsprechend länger. Die zunächst bis zu den Osterferien geltende Regelung soll die Zahl der Schüler in den Bussen halbieren. Auch in anderen großen und kleinen Städten wird bundesweit über eine Entzerrung des Schülerverkehrs diskutiert.
Für die Mitarbeiter der Verkehrsunternehmen ist das Ansteckungsrisiko mehr als überschaubar, ermittelte eine Umfrage des VDV. Bei den fast 80.000 Beschäftigten gab es seit Beginn der Pandemie im März bis Mitte November insgesamt 233 bestätigte Corona-Infektionen, davon haben sich nur neun nachweislich im Dienst infiziert.

Weitere Infos unter:

www.besserweiter.de

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