Infrastruktur
21.11.2022

Neues Leben auf alten Strecken

Die Klimaziele Deutschlands sind ehrgeizig – und im Verkehrsbereich wohl nur zu erreichen, wenn alle Anstrengungen für einen attraktiven Schienenverkehr unternommen werden. ­Selten war die Zeit günstiger, stillgelegte Bahnstrecken wiederzubeleben. In nahezu allen Regionen Deutschlands schlummert Potenzial. Der VDV fordert jedoch mehr Tempo. Nach einem Jahr „Ampelregierung“ ist die Reaktivierungsbilanz ernüchternd: null Kilometer. Reaktivierungen können auch den Güterverkehr und die Verlagerung von Transporten auf die Schiene voranbringen.

4.573

Kilometer Schiene

könnten laut VDV reaktiviert werden. So würden in den Mittelzentren etwa 1,3 Millionen und insgesamt fast fünf Millionen Menschen eine Schienenanbindung erhalten.


Es war einmal eine alte Eisenbahnstrecke. Auf der fuhren viele Jahre keine Züge mehr, so dass Dornen und Gestrüpp über die Gleise wucherten. Doch die Menschen wollten Zug fahren. Sie rissen die Dornen und das Gestrüpp einfach raus. Kilometer für Kilometer. Für einen Taler kauften sie sich ihre alte Eisenbahnstrecke zurück und küssten sie wach. Die alte Strecke erhielt eine Oberleitung und an manchen Stellen ein zweites Gleis. So konnten immer mehr Züge immer öfter fahren – auch elektrisch. Und so wollten immer mehr Menschen auf der Bahnstrecke Zug fahren, wo einst Dornen und Gestrüpp wucherten.

Die Historie der Schönbuchbahn klingt wie ein Märchen, ist jedoch eine ganz reale Erfolgsgeschichte. Was 1996 nach jahrzehntelangem Verkehrsschwund und Dornröschenschlaf begann, hat sich zur erfolgreichsten Nebenbahn Baden-Württembergs entwickelt. 120 Millionen Euro hat der Ausbau gekostet – unterstützt mit Mitteln aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG). Vom Start weg wurde die prognostizierte Zahl von täglich 2.500 Fahrgästen deutlich übertroffen. Nach einem Jahr Betrieb lag sie 1997 bei 5.000, zuletzt bei 10.000. Für die Zukunft erwartet der Zweckverband Schönbuchbahn, dass 14.000 Fahrgäste pro Tag auf der 17 Kilometer langen Strecke zwischen Böblingen und Dettenhausen unterwegs sind.

Schönbuchbahn: Auf der im Jahr 1996 reaktivierten Nebenstrecke zwischen Böblingen und Dettenhausen werden in Zukunft 14.000 Fahrgäste pro Tag erwartet.


Stilllegungen und Entwidmungen stoppen

Geschichten wie diese warten in vielen Regionen Deutschlands darauf, geschrieben zu werden. Der VDV und die Allianz pro Schiene schlagen die Reaktivierung von 4.573 Kilometern Schiene vor, die sich auf 277 Strecken verteilen – 17 davon in die Nachbarländer. Viele Strecken sind noch als Verkehrstrassen verfügbar. Deshalb fordert der VDV ein Moratorium, vorhandene Strecken nicht weiter stillzulegen oder zu entwidmen. „Man sollte so ein wertvolles Gut wie Eisenbahnstrecken in der Fläche nicht für andere Zwecke nutzen“, erklärt Dr. Martin Henke, VDV-Geschäftsführer für den Bereich Eisenbahnverkehr.

In einer kürzlich aktualisierten Broschüre listet der VDV 332 Städte und Gemeinden auf, die durch die vorgeschlagenen Reaktivierungen ans Bahnnetz angeschlossen werden könnten. Insgesamt 3,4 Millionen Menschen in den bisher überhaupt nicht angeschlossenen Städte würden so einen schnelleren Zugang zur Schiene erhalten. Von ihnen leben 1,3 Millionen in Mittelzentren, die derzeit keinen genutzten Bahnanschluss haben.

Neben dem geringen Flächenbedarf sowie der Verbesserung von Mobilität und Erreichbarkeit gibt es ein weiteres gewichtiges Argument für die Reaktivierung von Schienenstrecken: die Aufwertung einer ganzen Region. „Reaktivierungen können Kommunen in vielerlei Hinsicht stärken“, erläuterte Prof. Corinna Salander vom Bundesinstitut für Zukunftsforschung im Schienenverkehr auf der VDV-Reaktivierungskonferenz: „Sie bieten Anbindung, Vernetzung und steigern die Attraktivität als Lebens- und Wirtschaftsstandort.“ Dass Reaktivierungen besonders in ländlichen Räumen „eine strukturpolitische Wirkung“ entfalten und „eine Signalwirkung als Investition in die Zukunftsfähigkeit einer Region“ haben, zeigt auch eine aktuelle Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) auf.

Streckenertüchtigung am Teutoburger Wald: Zwischen Ibbenbüren und Versmold sind wieder Güterzüge unterwegs - wie von der Lappwaldbahn (l.). Der „Haller Willem“ (r.) wurde im Jahr 2005 reaktiviert. Inzwischen nutzen bis zu 2.500 Fahrgäste täglich die Züge der Nordwestbahn zwischen Bielefeld und Osnabrück.

Unterdessen zieht es nicht nur die Menschen, das hat das 52 Millionen Mal verkaufte 9-Euro-Ticket im Sommer gezeigt, sondern auch die verladende Wirtschaft wieder zu den Zügen. „Der Wind hat sich gedreht“, sagte VDV-Präsident Ingo Wortmann auf der Reaktivierungskonferenz: „Wenn wir mit Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern sprechen, scheint die Anbindung ans Schienennetz ein neuer Wert und Standortfaktor zu werden.“ Mittelständische Unternehmen – viele davon in ländlichen Gegenden – haben ein Transportaufkommen, das für die Eisenbahn prädestiniert ist. Dennoch wurden sie von der Schiene abgehängt. Der VDV setzt sich deshalb dafür ein, auch den Güterverkehr stärker einzubeziehen und fordert ein eigenes Budget zur Reaktivierung von Güterzugstrecken (siehe Interview). Bisweilen kann der Güterverkehr sogar eine Vorreiterrolle für den Personenverkehr übernehmen. Beispiel Lappwaldbahn: Die im Bereich Infrastruktur und Schienengüterverkehr tätige Unternehmensgruppe mit Stammsitz in Weferlingen bei Helmstedt hat gleich drei Strecken in Eigenleistung mit „viel Handarbeit“, so Geschäftsführer Kai Ebert, ertüchtigt und reaktiviert – darunter die Verbindung zwischen Ibbenbüren beziehungsweise dem Hafen Ibbenbüren-Dörenthe am Dortmund-Ems-Kanal und Versmold. Der Hafen ist über ein Stichgleis an die Strecke der Teutoburger Wald-Eisenbahn (TWE) über Lengerich und Gütersloh nach Hövelhof angeschlossen, auf der neben touristischen Zugfahrten ausschließlich Güterverkehr betrieben wird. Wenige Kilometer hinter Versmold wird auf dem Abschnitt Harsewinkel über Gütersloh nach Verl ab Ende 2025 der Personenverkehr wieder aufgenommen. Nach baubedingten Streckensperrungen im vergangenen Jahr gewinnt der Güterverkehr bei der Lappwaldbahn an Fahrt. Für 2023 rechnet Geschäftsführer Kai Ebert mit einer Verdoppelung der Tonnage auf seinen Strecken.

VDV-Publikationen

Auf einer eigenen Themenseite hat der VDV Zahlen und Fakten zum Thema Reaktivierung zusammengestellt. Hier kann auch die Broschüre „Auf der Agenda: Reaktivierung von Eisenbahnstrecken“ kostenlos heruntergeladen werden. Bei einer Reaktivierung für den Bahnbetrieb sollten laut VDV auch die Ansprüche des Fahrrad- und Fußgängerverkehrs berücksichtigt werden. Der VDV hat dazu mit der Transport­Technologie-Consult Karlsruhe GmBH Vorschläge erarbeitet, die ebenfalls kostenlos auf der Themenseite zum Download zur Verfügung steht.

www.vdv.de/reaktivierung-bahnstrecken

Podcast-Folge „Nächster Halt“ der VDV-Akademie zum Thema „Erfolgsbedingungen der Reaktivierung von Schienenstrecken“, im Gespräch mit Prof. Dr. Corinna Salander, Direktorin des Deutschen Zentrums für Schienenverkehrsforschung.

Hier geht es zum Podcast

Weitere Projekte werden vorbereitet

Auch andernorts nutzt die Eisenbahn ihre Chancen nach Streckenreaktivierungen. Der „Haller Willem“ – ebenfalls am Teutoburger Wald –, die Bentheimer Eisenbahn in der Nähe der deutsch-niederländischen Grenze, die Nordbahn in Schleswig-Holstein, die Zschopautalbahn im Erzgebirge: Das sind nur wenige Beispiele auf einer Liste erfolgreich reaktivierter Schienenstrecken. Fortsetzung folgt: Die Deutsche Bahn kündigte 2021 an, in den kommenden Jahren gemeinsam mit Ländern und Aufgabenträgern zunächst 20 Strecken mit einer Länge von 245 Kilometern wiederbeleben zu wollen. Diese Projekte befinden sich in unterschiedlichen Phasen der Umsetzung. Während einige schon im Bau sind, wird an anderen geplant. Für einen weiteren Teil führen die Länder die notwendigen Machbarkeitsstudien durch.

Luft nach oben hat die Bundesregierung, die in ihrer Koalitionsvereinbarung den Willen bekräftigt hat, Strecken zu reaktivieren: Im ersten Jahr der „Ampel“ wurde kein einziger Kilometer wieder in Betrieb genommen. Einer der Gründe sind zu wenig Regionalisierungsmittel – ein weiteres Thema, bei dem der Bund im Wort steht. „Wir brauchen den Schulterschluss aller staatlichen Ebenen“, sagte Michael Theurer, Staatssekretär im Bundesministerium für Digitales und Verkehr und Eisenbahnbeauftragter der Bundesregierung, und machte auf der VDV-Reaktivierungskonferenz deutlich, dass Reaktivierungsvorhaben Gemeinschaftsprojekte sind.


Drei Fragen an

Dr. Martin Henke (Foto), VDV-­Geschäftsführer ­Eisenbahnverkehr

Herr Dr. Henke, warum sind die Bedingungen, Schienenstrecken zu reaktivieren, gerade jetzt so günstig?
» Dr. Martin Henke: In der vergangenen Legislaturperiode hat die Bundesregierung die Finanzierungsmöglichkeiten deutlich verbessert. Reaktivierungsprojekte werden vom Bund zu 90 Prozent gefördert. Zudem machen die Novellierung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG) und dessen ausgeweiteter Finanzrahmen es den Ländern und Kommunen leichter, solche Projekte mitzufinanzieren. Außerem wurde im Sommer das Verfahren bei der Standardisierten Bewertung modernisiert. Das erleichtert es Reaktivierungsprojekten, die Wirtschaftlichkeitshürde zu nehmen.

Bei den VDV-Vorschlägen zur Streckenreaktivierung liegt ein besonderes Augenmerk auf den Mittelzentren. Warum?
» Mittelzentren versorgen ihre Umgebung mit Bildungsangeboten, medizinischer Hilfe, Verwaltungsservices sowie einem Kultur- und Sportangebot. Von den 900 deutschen Mittelzentren sind 122 mit fast 1,8 Millionen Einwohnern nicht an den Personenverkehr auf der Schiene angebunden. Falls unsere Vorschläge umgesetzt würden, könnten allein in den Mittelzentren 1,3 Millionen Menschen wieder angeschlossen werden. Werden alle wieder anzuschließenden Kommunen beziehungsweise Ortsteile mitgezählt, sind es fünf Millionen Menschen, die wieder eine Anbindung ans Schienennetz erhalten würden.

Was würde dem Schienengüterverkehr helfen?
» Bei der mittelständischen Wirtschaft gibt es eine große Bereitschaft, Transporte auf die Schiene zu verlagern. Oft fehlt aber einfach die Strecke. Für die Reaktivierung reiner Güterstrecken, die Fabriken über dezentrale Güterverkehrszentren und Speditionsterminals bis hin zu dringend benötigten Ladestraßen in der Fläche anschließen, gibt es bislang keinen eigenen Haushaltstitel beim Bund, der auch entsprechend ausgestattet und über alle Bahnen angelegt ist – unabhängig vom Infrastrukturunternehmen.

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