„Die dritte Revolution
des öffentlichen Nahverkehrs
ist in vollem Gange“

Die Gründung der Verkehrsverbünde und die Regionalisierung des Schienennahverkehrs 1996 waren die zwei bisherigen Revolutionen, die die deutsche Nahverkehrsbranche geprägt und auf den Kurs zu Fahrgastorientierung und Fahrgastwachstum gebracht haben. Jetzt ist die dritte Revolution in vollem Gange: die digitale Vernetzung von Hintergrundsystemen, mit denen Fahrgäste über die Grenzen einzelner Verkehrsverbünde oder Unternehmen Fahrkarten per App kaufen und weitere Mobilitätsangebote buchen können. Ein Gastbeitrag von VDV-Vizepräsident und RMV-Chef Prof. Knut Ringat (Foto).


Der Begriff „Digitalisierung“ fällt im Koalitionsvertrag häufiger als „Klimaschutz“. Wenn Deutschland unabhängiger werden will von Energieimporten, wenn Deutschland bis 2045 klimaneutral werden will und wenn bis 2030 die jüngst nochmals verschärften Klimaschutzziele auch beim großen Sorgenkind, dem Verkehrssektor, erreicht werden sollen, braucht es zum einen politische Unterstützung für Bus und Bahn ordnungspolitischer und finanzieller Art. Zum anderen muss die Branche weiter konsequent auf der guten Basis aufbauen, die sie in den vergangenen Jahren geschaffen hat. Mit einem Ticket Bus, Bahn und Zug nutzen? In Deutschland ist das Standard, im Ausland außerhalb von Ballungsräumen weiter Zukunftsmusik. Fast 75 Prozent der Fahrgäste im ÖPNV, so der VDV, waren 2019 mit Wochen-, Monats- oder Jahreskarten unterwegs. Diese Millionen Kundinnen und Kunden haben damit in Verkehrsverbünden eine Flatrate von Bahn über Bus bis hin zu Fähren, wie in Hamburg oder Berlin. Hier gilt: einfach einsteigen und fahren – so oft, womit und wohin man möchte. Darauf darf sich der deutsche ÖPNV jedoch nicht ausruhen, sondern muss die Chancen der Digitalisierung nutzen, um Fahrgästen auch über die traditionellen Grenzen des eigenen Tarifs oder eigenen ÖPNV-Angebots hinaus ein attraktives Gesamtangebot zu unterbreiten.

Von der Komplexität zum Swipe

Während Zeitkartenkundinnen und -kunden im Zweifel einfach zwei getrennte Fahrkarten kombinieren, sind es die Gelegenheitskunden, welche Angebotsbrüche fürchten und den Einstieg in den ÖPNV deshalb meiden. Hier setzt die Branche an: Mit gemeinsamen oder vernetzten Hintergrundsystemen werden die Revolutionen von 1965 und 1996 in neuer Form wiederholt. Wo der Fahrgast heute für eine Fahrt vom Wohnort zum Zielort mitunter noch drei Tickets nach drei unterschiedlichen Tariflogiken kaufen muss, erledigt dies künftig eine App für ihn – ein enormer Mehrwert und Komfortgewinn für den Kunden. Das Problem „keine Preisauskunft möglich“, das für viele gleichbedeutend ist mit „kein Angebot vorhanden“, wird gelöst. Ein wesentlicher Vorteil digitaler Vernetzung über das Hintergrundsystem: Der Fahrgast erhält bei einer Buchung über drei Tarife weiterhin drei Tickets, aber nur eine Rechnung.

Der Weg zu solch vernetzten Angeboten war und ist eine Teamaufgabe: Um dem Fahrgast eine App auf dem Smartphone anzubieten, die eine Route vom Start zum Ziel errechnet, tarifiert und zum Buchen anbietet, dabei verschiedene Verkehrsmittel integriert und eine Kontrolle der Fahrtberechtigung gewährt, ist eine Vielzahl von Akteuren im Hintergrund gefordert. Damit die App auch verbundübergreifend funktioniert, geht es sowohl technisch als auch organisatorisch raus aus dem eigenen Teich und rein in die Arbeitsteilung.

Es wächst zusammen, was zusammengehört

Wo der Fahrgast heute für eine Fahrt vom Wohnort zum Zielort mitunter noch drei Tickets nach drei unterschiedlichen Tariflogiken kaufen muss, erledigt dies künftig eine App für ihn.

Prof. Knut Ringat, VDV-Vizepräsident und Sprecher der Geschäftsführung des Rhein-Main-Verkehrsverbunds

Die Erkenntnis, dass die Digitalisierung eine Vielzahl an Chancen bietet, hat eine neue Form der Kooperation hervorgebracht. Mit der Schaffung gemeinsamer Standards und Systeme hat sich in der Branche in den letzten Jahren viel getan, von mandantenfähigen Vertriebshintergrundsystemen, die auch andere Verkehrsverbünde nutzen können, über (((etiCORE, dem Standard, der den grundlegenden Aufbau aller eTicket-Systeme in Deutschland regelt und auf Chipkarten oder Smartphones zu finden ist, bis hin zu DELFI, der Plattform für deutschlandweite Fahrplan- und Reiseinformationen. Während DELFI die Daten für einen Weg von A nach B an einen Router weitergibt, können Tarifmodule für die betreffende Strecke den Preis und das notwendige Tarifprodukt ermitteln. Erst durch die Kombination aus Strecke und richtigem Tarif entsteht für den Fahrgast ein buchbares Ticket. Zuletzt ist für die rechtlichen Aspekte die Brancheninitiative Gegenseitiger Verkauf hinzugekommen, die die vertragliche Grundlage schafft und standardisiert, damit auch Tarifprodukte außerhalb des eigenen Tarifraums verkauft werden können. Die Erkenntnis der letzten Jahre: Branche, Kommunen, Länder und Bund schaffen große Vorhaben nur gemeinsam.

„Mobility inside“: Von der Branche für die Branche

All diese technischen Lösungen und Formen der (digitalen) Kooperation münden in „Mobility inside“ (Mi). Die Initiative ist aus dem Branchenverband VDV heraus entstanden und heute eine operative Gesellschaft der Branche für die Branche. Die Partner haben das Ziel, alle Mobilitätsangebote zu einem nahtlosen Service zu vernetzen und den Fahrgästen anzubieten. Fahrgäste können dann durchgängig von A über B nach C buchen, egal wie viele Fahrkarten oder Fahrtberechtigungen beispielsweise für Bikesharing im Hintergrund erworben werden. Für dieses völlig neue Angebotspaket nutzt „Mobility inside“ die zuvor beschriebenen Dienste, Systeme beziehungsweise Daten und aggregiert diese zu einem Service für die unterschiedlichen Bedürfnisse der Branche: zum einen eine White-Label-App inklusive mandantenfähiger Hintergrundsysteme für kleine und mittlere Verkehrsunternehmen und -verbünde. Diese erlaubt einen schnellen Zugang zu digitalen Vertriebsmöglichkeiten und spart eigene App- und Systementwicklungen, deren Betrieb sich für kleinere Regionen oft nicht rechnet. Die andere Option richtet sich an große Verkehrsunternehmen und -verbünde sowie Anbieter weiterer Mobilitätsformen wie Sharingangebote, die bereits digital breit aufgestellt sind. Sie können sich über Schnittstellen an die Systeme von „Mobility inside“ anschließen, um so gegenseitigen Zugriff auf den Vertrieb aller Partner zu erhalten. Dieses Angebot bringt den ÖPNV in Deutschland auch im Ticketbereich auf den Stand der Technik. „Mobility inside“ ist seit April als White-Label-App in den App-Stores erhältlich.

Mehr Informationen dazu

finden Sie unter:

www.mobility-inside.de



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