Verkehrspolitik
09.11.2021

Beherzte Renaissance der Güterbahn

Eine fundierte Analyse versetzt die Schienenverkehrsbranche in Aufbruchstimmung. Auf 120 Seiten beschreibt eine Studie der Unternehmensberatung Roland Berger in vielen Einzelheiten, wie die Güterbahnen möglichst schon ab 2030 einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz des Verkehrssektors leisten können. Vorausgesetzt, die Politik der neuen Bundesregierung stellt die Weichen mit schnellen Entscheidungen und einem großzügigen Mittelfluss für Ausbau und Erneuerung.


Es war eine fast schon frohe Runde, die in Berlin zusammenkam, als die Ergebnisse der vom VDV in Auftrag gegebenen Studie vorgestellt wurden: Verkehrspolitiker, Bahnunternehmer, Logistiker. „Schienengüterverkehr ist keine negative Geschichte mehr“, gab ihnen Alexander Möller, Seniorpartner bei Roland Berger und für die Studie verantwortlich, mit auf den Weg. Alle atmeten sichtbar auf: Lange Zeit schien der Schienengüterverkehr eher das Schmuddelkind der Eisenbahnfamilie zu sein – er galt als unzuverlässig, nur bedingt geeignet für die moderne Logistik, obendrein zu teuer und damit unwirtschaftlich. Nun rechnen ihnen die Experten, die Hand in Hand mit einer Reihe von VDV-Mitgliedsunternehmen zusammengearbeitet hatten, mit etlichen Zahlen vor: 25 Prozent, ja sogar 30 Prozent Marktanteil bis 2030 stufen sie als realistisch ein. Jedenfalls dann, wenn Bund und Länder und die Bahnbranche rasch beherzte, große Schritte der Erneuerung und des Aufbaus gehen und viel Geld in die Hand nehmen.

Finanzierungsbedarfe in Milliarden Euro von heute bis 2030

Im Dialog mit den Güterbahnen im Branchenverband waren in einer vorbereitenden Analyse rund 100 Einzelmaßnahmen für die Zukunft des Schienengüterverkehrs identifiziert und in 18 „Paketen“ zusammengefasst worden. Daraus ergeben sich, so die Studie, drei wesentliche Schwerpunkte: zunächst Änderungen von verkehrspolitischen Rahmenbedingungen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Schiene gegenüber der Straße, dann Auf- und Ausbau der Infrastruktur sowie der Fahrzeugflotten, schließlich Innovationen und Qualitätsverbesserungen, ebenfalls mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Die Transportleistung des Güterverkehrs auf der Schiene, gemessen in Tonnenkilometern, habe dann die Chance, um fast zwei Drittel zu steigen. Entscheidend sei dabei aber eine parallele Umsetzung aller Maßnahmenbündel: Nur im Verbund werde die prognostizierte Wirkung erreicht.

Das gibt es nicht zum Nulltarif, sondern nur mit erheblichen Investitionen. Roland Berger rechnet mit einer Gesamtsumme von knapp 52 Milliarden Euro bis 2030. Davon entfalle ein Großteil von 32 Milliarden Euro auf den notwendigen Ausbau der Infrastruktur für den Schienengüterverkehr, insbesondere für zusätzliche Gleise, Anlagen und Serviceeinrichtungen – klassischer Nachholbedarf und Kapazitätssteigerungen für den anvisierten Mehrverkehr. Rund ein Viertel der Investitionen will die Branche selbst tragen, insbesondere für die laufende Erneuerung des Rollmaterials und für die Modernisierung des täglichen Geschäftes. Das Geld sei bestens investiert, signalisiert die Studie: Es handele sich keineswegs um Subventionen, sondern es gehe ausschließlich um den Nachholbedarf. So werde der Schienengüterverkehr attraktiv und wettbewerbsfähig – und könne nach der grundsätzlichen Erneuerung später ohne Steuergelder selbsttragend sein.

„Über den Klimawandel zu sprechen, reicht nicht mehr. Es müssen Taten folgen“, mahnte VDV-Vizepräsident Joachim Berends, Chef der Bentheimer Eisenbahn, anlässlich der Vorstellung der Studie. Die Branche sei dazu bereit. So liege der Eigenanteil der Unternehmen besonders in der Entwicklung und Beschaffung der notwendigen Anlagen, aber auch der Implementierung einer zukunftsgerichteten Digitalisierung. Zudem seien die Güterbahnen „wesentlich gefordert, die Eigenanteile geförderter Infrastrukturen zu investieren und zu finanzieren“. Dafür bräuchten sie aber die Sicherheit verlässlicher Zusagen der Fördermittel. Und Harmonisierung und Standardisierung – etwa das digitale Betriebsleitsystem ETCS (European Train Control System) – müssten europaweit vorangetrieben werden – damit ein Güterzug genauso problemlos von Warschau nach Lissabon fahren könne wie ein Lkw.

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Die Strategien für die Renaissance des Schienengüterverkehrs kommen auch in der Politik gut an. „Alles richtig, was da steht”, äußerte sich Enak Ferlemann, Bahn-Beauftragter und Parlamentarischer Verkehrs-Staatssekretär der alten Bundesregierung, bei der Präsentation der Studie geradezu euphorisch. Sie sei die Leitlinie für die künftige Verkehrspolitik: „Wer die neue Regierung stellt, kann das übernehmen.“ 25 Jahre nach der Bahnreform gebe es für den Neubeginn auch „große Einigkeit“ mit der EU-Kommission. Ferlemann regte an, dass die im vergangenen Jahr aufgrund der Coronapandemie gesenkten Trassenpreise dauerhaft niedrig bleiben sollten. Etwas skeptischer äußerte sich Daniela Kluckert, FDP-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Verkehrsausschusses. Sie stellte in Frage, dass der hohe Investitionsbedarf angesichts der vielen Belastungen der öffentlichen Haushalte überhaupt zu stemmen sei.

In der Diskussion begrüßten die Eisenbahnverkehrsunternehmen den Vorschlag der Unternehmensberater, neben dem Wettbewerb künftig stärker über Kooperationen zu verbesserter Marktpräsenz zu kommen. Die Produktionssparten Einzelwagenverkehr, Kombinierter Verkehr und Ganzzugverkehr sollten „zu einer gemeinsamen, intermodalen Logistiklösung mit der Schiene im Zentrum“ verschmelzen. In besonderem Maße betrifft dies das lange vernachlässigte Geschäft des Einzelwagenverkehrs, das im Wesentlichen nur noch vom Deutsche-Bahn-Konzern wahrgenommen wird. DB-Cargo-Chefin Sigrid Nikutta machte deutlich, dass heute bereits 18 Prozent der Transportleistung mit Einzelwagen oder Wagengruppen gefahren würden. „Das ist kein Nischenprodukt, sondern von der Verkehrsleistung her gigantisch.“ Im Zeichen der Klimaschutz-Strategien sei die Industrie nach längerer Abstinenz an derartigen Dienstleistungen zunehmend interessiert, und dieses Geschäft sei durch Kooperationen besser abzudecken, beobachtet auch Joachim Berends.

Durch deutlich mehr kranbare Auflieger könnte die Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene an Schub gewinnen.

Mit großem Interesse nahmen die Unternehmen auf, dass die Studie zum Einstieg in die Verkehrsverlagerungen zugunsten der Schiene ein „100-Tage-Programm“ mit ersten Schritten und Maßnahmen vorschlägt. Ein weites Feld: vom Bürokratie-Abbau bei Bauvorhaben – etwa bei der Beseitigung der Hochwasserschäden in der Eifel – über eine Zulassungsregelung ausschließlich für bahntaugliche, also „kranbare“ Sattelauflieger bis zur Durchsetzung von Englisch als internationale Sprache für die Lokführer wie im Flugverkehr. Bei Letzterem verschlägt es allerdings selbst Enak Ferlemann den Optimismus: „Das kriegen wir nicht hin. Da machen viele unserer europäischen Nachbarn nicht mit.“

Weitere Infos und das Gutachten zum

Schienengüterverkehr bis 2030

unter: www.vdv.de/sgv

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