Hamburg auf dem Weg
zur Mobilitätswende

50 Kilometer neue S- und U-Bahnlinien, 750 emissionsfreie Busse, 600 zusätzliche Haltestellen, mindestens alle fünf Minuten ein öffentliches Verkehrsangebot nahe jeder Haustür: So will die Freie und Hansestadt Hamburg die Mobilitätswende ansteuern – mit dem „Hamburg-Takt” schnell, umweltfreundlich und möglichst ohne individuelle Autofahrten. Auf vielen Linien ist der frische Wind schon im Fahrplan spürbar, und für Großprojekte des Schienenschnellverkehrs sind die Weichen gestellt.


Die örtlichen Medien griffen in ihren Schlagzeilen schon zur „Revolution“, die Verantwortlichen aus der Politik sprachen eher vornehm vom „Paradigmenwechsel“, die Verkehrsunternehmen von der „Angebotsoffensive“. Was sie alle meinen, beschreibt Hamburgs Verkehrssenator Michael Westhagemann überschaubar in drei Sätzen: „Wir wollen die Straßen entlasten und die Luft reinhalten. Das geht nur, wenn wir den Hamburgerinnen und Hamburgern Angebote machen, die es ihnen erleichtern, das eigene Auto stehen zu lassen. Deshalb erweitern wir mit aller Kraft den Bus- und Bahnverkehr und setzen zusätzlich auf neue Mobilitätsformen.“

50

Prozent

Um diesen Wert soll in Hamburg die Zahl der Fahrgäste von Bus und Bahn erhöht werden. Ziel ist es, den ÖPNV-Anteil bei der Verkehrsmittelwahl auf 30 Prozent zu steigern.

Busse machen den Anfang

Neu ist beispielsweise die Buslinie X 3 der Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein GmbH (VHH). Sie startet am U-Bahnhof Meßberg nahe der Hafencity, schlängelt sich durch die Innenstadt und nimmt dann geradlinig Kurs auf die westlichen Vororte Lurup, Osdorf und Schenefeld. Fahrzeit von Endhaltestelle zu Endhaltestelle: gut 30 Minuten. Trotz der für die Millionenmetropole attraktiven Fahrzeit ist die X 3 ein zeitliches Provisorium: Sie soll die bislang vom ÖPNV nicht sonderlich verwöhnten Stadtteile besser bedienen – so lange, bis die seit Jahrzehnten diskutierte und nun beschlossene neue S-Bahnlinie S 32 in Betrieb geht. Das wird auch noch bis ins nächste Jahrzehnt dauern, doch Raimund Brodehl sieht die Expressbuslinie als einen sinnvollen Anfang für die Mobilitätswende. Der Abteilungsleiter Verkehrspolitik in der Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation, dem „Verkehrsministerium“ des Bundeslandes Hamburg, erklärt: „Für den attraktiven und klimaneutralen Nahverkehr betreiben wir seit mehr als 100 Jahren unser Schnellbahnnetz mit U- und S-Bahnen. Dieses Netz auszubauen, ist ein unverzichtbarer Baustein für den Klimaschutz. Aber Großprojekte brauchen ihre Zeit, bis sie realisiert sind. Deshalb müssen wir zunächst im ÖPNV-Angebot auf der Straße die Effizienz und damit die Attraktivität steigern. Dafür sind unsere neuen X-Buslinien ein gutes Beispiel.“

Zukunft des Nahverkehrs in Hamburg: Die Visualisierungen zeigen die Trasse der S 4 an der Station Pulverhof (oben) sowie die voll automatische U 5 (unten), bei der Bahnsteigtüren für die Sicherheit der Fahrgäste sorgen.

Im Mittelpunkt der Planungen für die Schiene stehen zwei ambitionierte Projekte mit zwei neuen Linien: die neue S-Bahn S 4 und die U-Bahn U 5. Die S 4 soll von Altona aus über den Citytunnel den Hauptbahnhof erreichen, dann nordöstlich parallel zur bestehenden Fernbahn Hamburg – Lübeck hinter Rahlstedt die Landesgrenze zu Schleswig-Holstein passieren, um über Ahrensburg und Bargteheide nach Bad Oldesloe zu fahren, die Kreisstadt des benachbarten Kreises Stormarn. Ein 1,8 Milliarden-Euro-Projekt, auf dessen Finanzierung sich Bund, Schleswig-Holstein, Hamburg und die Deutsche Bahn Ende November 2019 geeinigt haben und bei dem der Bund über 80 Prozent der Kosten übernimmt. Hamburgs Erster Bürgermeister Dr. Peter Tschentscher sagte bei der Unterzeichnung des Finanzierungsabkommens: „Die zukünftige S 4 schafft eine schnelle und komfortable Schienenverbindung für bis zu 250.000 Bürgerinnen und Bürger in Hamburg und Schleswig-Holstein. Dies entlastet den Straßenverkehr und verbessert die Mobilität für alle.“

Pro Werktag rechnet Raimund Brodehl mit 97.000 Fahrgästen zwischen Altona und Bad Oldesloe. Viele von ihnen seien Pendler, die die S 4 ungeduldig erwarten. Sie werde die derzeitige Regionalbahnverbindung ersetzen, die im Mischbetrieb mit Fern- und Güterverkehr störungsanfällig sei. „Dieser Verkehr wird erheblich zunehmen, wenn in einigen Jahren die unterirdische Fehmarnbelt-Querung zwischen Dänemark und Schleswig-­Holstein fertiggestellt ist. Das ist einer der entscheidenden Treiber für unser Projekt.“ Der Wegfall der Regionalbahnlinie RB 81 schaffe zudem mehr Kapazität im überlasteten Hamburger Hauptbahnhof für den Fern- und Regionalverkehr, da die S 4 die bestehenden S-Bahn-Gleise 1 bis 4 mit nutzen werde. Damit würden Bahnsteige in der großen Halle für andere Züge frei. Neben den Pendlerströmen aus dem Umland bietet die bis Ahrensburg im Zehn-Minuten-Takt auf eigenen Gleisen geplante Linie auch dem Hamburger Nordosten gute Verbindungen mit vier neuen Haltepunkten im Stadtgebiet. Ein weiterer zusätzlicher Stopp ist in Ahrensburg West vorgesehen. Baubeginn ist spätestens im nächsten Jahr geplant, die Fertigstellung in Hamburg bereits 2025, auf der Gesamtstrecke bis 2027.

Fünf Meter lang und elektrisch angetrieben: Das ist der Minibus für das Hochbahn-Projekt HEAT in der Hafencity. Ab Mitte des Jahres können Fahrgäste einsteigen.

Hamburgs erste vollautomatische Linie

Großprojekte brauchen ihre Zeit, bis sie realisiert sind. Deshalb müssen wir zunächst im ÖPNV-Angebot auf der Straße die Effizienz und damit die Attraktivität steigern. Dafür sind unsere neuen X-Buslinien ein gutes Beispiel.

Raimund Brodehl,
Abteilungsleiter Verkehrspolitik in der Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation der Freien und Hansestadt Hamburg 

Neben Plänen, die U 4 an beiden Endpunkten zu verlängern, kommt auch die U 5 als kompletter Neubau in konkretere Stadien. Ein erster, sechs Kilometer langer Abschnitt als „U 5 Ost“ zwischen dem Stadtteil Bramfeld im Nordosten und der Büromeile City Nord befindet sich bereits im Planfeststellungsverfahren, das – so Brodehl – bis zum Jahresende abgeschlossen sein soll. Die weitere Linienführung ist südwärts bis zum Hauptbahnhof geplant, dann westlich der Außenalster wieder nord- und westwärts mit Stopps unter anderem am Universitätsklinikum, Hagenbecks Tierpark und an der Endhaltestelle Arenen. Zahlreiche Verknüpfungspunkte im Schnellbahn- und im Busnetz schaffen viele Umsteigemöglichkeiten. Die U 5 wird die erste vollautomatisch betriebene Linie im Hamburger Netz, mit Bahnsteigtüren an den Haltestellen, mit Zugfolgen zu Spitzenzeiten von 90 Sekunden. „Die Finanzierung ist nach dem Votum der Bürgerschaft gesichert, offen ist noch, welchen Kostenanteil der Bund übernimmt“, berichtet Brodehl. Für den ersten Abschnitt der U 5 liegen die Kosten nach jetzigem Stand ebenfalls bei 1,8 Milliarden Euro.

Politik und Verkehrsunternehmen der Freien und Hansestadt haben sich in den vergangenen beiden Jahren entschieden, die Mobilitätswende bereits jetzt nach und nach in vielen kleinen Schritten herbeizuführen. „Die großen Infrastrukturen der Schiene stehen uns kaum vor 2030 zur Verfügung, nur der Bus hilft uns kurzfristig, und der hat große Potenziale“, betont Henrik Falk, Chef der Hamburger Hochbahn, immer wieder. Der „Hamburg-Takt“ ist der Versuch, diese Chancen zu nutzen – mit einem radikalen Umdenken in den Verkehrsunternehmen – weg von der bisher gängigen Nachfrageorientierung, hin zu einer Angebotsorientierung. In mehreren „Angebotsoffensiven“ bauen die Unternehmen den ÖPNV aus – statt der am Bedarf angepassten Erhöhung der Verkehrsleistung um nur 1,2 Prozent im Jahr derzeit gleich um sechs Prozent. Falk: „Wenn wir mit dem Auto konkurrieren wollen, brauchen wir zunächst hohe Taktdichten, ein weit verästeltes Liniennetz und viel mehr Haltestellen.“ Das bedeutet, dass Hochbahn und VHH statt der für ihre bisherige Auslastung eigentlich benötigten 200 zusätzlichen Busse gleich 750 beschaffen werden. Damit können sie häufiger fahren, und ihre Kunden müssen an der Haltestelle und beim Umsteigen weniger lang warten. Neue Busprodukte wie der X-Bus oder der Quartierbus werden Bestandteile des optimierten ÖPNV-Angebotes. Taktverdichtungen natürlich auch auf dem bisherigen Schienennetz: U-Bahnen alle zwei Minuten, S-Bahnen im Fünf-Minuten-Takt.

Vorstellung der U 5-Ausbaupläne im Dezember: Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (3. v. r.) mit den Geschäftsführern der Verkehrsunternehmen Tobias Haack (HADAG), Kay Uwe Arnecke (S-Bahn Hamburg), Henrik Falk (Hamburger Hochbahn), Dietrich Hartmann (HVV) und Toralf Müller (VHH) (v. l. n. r.).

Mehr und mehr kommen für den attraktiven ÖPNV auch innovative Mobilitätsangebote ins Spiel. Schon Realität ist in Hamburg der On-Demand-Dienst der Deutsche Bahn-Tochter Ioki. Mit Elektro-Großraumtaxis erfolgreich in den Stadtteilen Lurup und Osdorf getestet, hat Anbieter VHH nun auch die Industriegebiete in Billbrook ins Angebot aufgenommen: Dort können insbesondere Pendler die letzte Meile zur Arbeit oder den ersten Weg von der Firma zurück zur Haltestelle mit dem per App bestellten Sammeltaxi zurücklegen, für einen Euro Aufpreis zum Verbundticket. Zum ITS-Weltkongress („Intelligent Traffic Systems”) im Oktober 2021 plant Hamburg, noch mehr konkurrenzfähigen Zukunfts-ÖPNV zu bieten: die vollautomatische S-Bahn nach Bergedorf, und in der Hafencity will die Hochbahn im Projekt HEAT (Hamburg Electric Autonomous Transport) den ersten selbstfahrenden Bus im Stadtverkehr mitschwimmen lassen.

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