Personal
20.11.2023
Menschen im Mittelpunkt: Mit authentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern werben ­Verkehrsunternehmen
um Arbeitskräfte.

„Wir rücken die Vorteile der Branche in den Vordergrund“

Fast jeder zweite Busfahrer geht bis 2030 in den Ruhestand. Um das altersbedingte Ausscheiden aufzufangen, benötigt der ÖPNV allein im Fahrdienst bis zu 8.000 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pro Jahr. Wie es künftig gelingen kann, Menschen für die Verkehrsbranche zu gewinnen, sie langfristig zu binden und zu qualifizieren, war Thema beim 11. VDV-Personalkongress in Bonn.


Bye-bye Boomer: Bis 2030 gehen in der Verkehrsbranche 80.000 Beschäftigte in den Ruhestand. Die geburtenstarken Jahrgänge haben bei Bussen und Bahnen einen besonders hohen Anteil – eine Folge des politisch verordneten Sparzwangs der Vergangenheit. Zu wenig Nachwuchs wurde eingestellt. Nun fehlen die Fachkräfte: vor allem im Fahrdienst, aber auch in den Werkstätten und Verwaltungen. Zudem wandert Personal in andere Branchen ab.

Graphic Recording: Was auf dem dreitägigen VDV-Personalkongress gesagt wurde, hielt Pavo Ivković auf mehreren Metern Papier in Echtzeit visuell fest.

Personalsuche ist und bleibt ein mühseliges Geschäft, pauschale und schnelle Lösungen gibt es nicht. Das wurde einmal mehr auf dem 11. VDV-Personalkongress deutlich, zu dem der VDV, die VDV-Akademie und die SWB Bus und Bahn eingeladen hatten. „Der Mensch im Mittelpunkt“: Unter diesem Leitgedanken berieten Personalexpertinnen und -experten aus ganz Deutschland und aus Österreich Konzepte gegen den Arbeitskräftemangel. Die Hinwendung zum Menschen sei kein neues Konzept, erläuterte Ruth Leyendecker, seit September Geschäftsführerin der VDV-Akademie, „aber ihre vollständige Umsetzung in unserer Branche könnte eine neue Ära der Personalarbeit einleiten“. Empathie, Flexibilität und das Eingehen auf individuelle Notwendigkeiten der Mitarbeitenden müssten grundsätzlich in den Unternehmenskulturen verankert werden und dürften nicht nur Schlagworte auf Internetseiten sein. „Ohne gut ausgebildete, qualifizierte und motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geht im Betrieb, in den Werkstätten und in der Verwaltung unserer Unternehmen nichts“, machte VDV-Hautgeschäftsführer Oliver Wolff deutlich.

Hier fehlen Menschen im Raum, hier fehlt Lebensrealität.

Alex Gessner
Geschäftsführerin ACI Diversity
Consulting zu den Chancen von
mehr Diversität

Mehrsprachig um Arbeitskräfte geworben

Bonns Oberbürgermeisterin Katja Dörner betonte die Bedeutung der Menschen für die Verkehrswende: „Alle Anstrengungen für einen attraktiven ÖPNV hängen am Personal.“ In der Bundesstadt und Umgebung werben auch die SWB auf verschiedenen Kanälen um neue Mitarbeitende und Azubis – zuletzt etwa mit einer mehrsprachigen Kampagne in den sozialen Medien. Dort lautete die Botschaft: Als Busfahrerin oder Busfahrer hat man’s leichter und wird man glücklicher als beim Essenslieferdienst oder beim Umzugsunternehmen. „Wir rücken die Vorteile der Verkehrsunternehmen stärker in den Vordergrund, um die Menschen, die in anderen Branchen unzufrieden sind, auf die Vorzüge der Verkehrsbranche hinzuweisen“, erläuterte Anja Wenmakers, Geschäftsführerin von SWB Bus und Bahn. Auf die Kampagne in den sozialen Medien reagierten innerhalb kurzer Zeit 165 Bewerberinnen und Bewerber. Auch wenn die SWB die Zahl der Neueinstellungen, die die Werbung gebracht hat, nicht im Detail nachhält, wertet Anja Wenmakers die Kampagne zunächst als spürbaren Erfolg.

Doch wie können die Menschen in den Verkehrsunternehmen gehalten und die Arbeit attraktiver gemacht werden? Auf dem VDV-Personalkongress war die Sorge zu hören, dass vor allem Fahrberufe in Zukunft finanziell unattraktiver zu werden drohen. Eine Sorge, die nicht unberechtigt erscheint: Auch der Erfolg der SWB-Kampagne wurde durch erhöhte personalbegründete Ausfälle wieder geschmälert – für die SWB auch eine Reaktion auf die im Januar anstehende Bürgergeld-Erhöhung um zwölf Prozent.

Klicken Sie auf das Bild, um sich Kampagnen verschiedener Verkehrsunternehmen anzusehen

Wechselnde Schichten, Wochenendarbeit, zu kurze Ruhephasen bei einer Fünf- bis Sechs-Tage-Woche: Diese Gründe für einen Wechsel in eine andere Branche hat auch Paul Hemkentokrax schon häufiger gehört. Der Geschäftsführer der Aktiv Bus Flensburg und stellvertretende Vorsitzende des VDV-Personalausschusses stellte neue Ideen bei der Gestaltung von Dienstplänen vor. 4-2-3-2: In diesem Rhythmus sollen sich in Flensburg künftig Arbeitstage und freie Tage abwechseln. Zusammen mit zusätzlich freien Samstagen und Sonntagen ergibt das wenigstens einmal im Monat ein komplett freies Wochenende. „Das macht den Beruf attraktiver für neue Interessentinnen und Interessenten“, erläuterte Paul Hemkentokrax – zumal hoch im Norden bereits eine ganze Reihe von Handwerksbetrieben mit einer Vier-Tage-Woche um Arbeitskräfte werbe. Aber woher soll das Geld kommen? Die zusätzlichen freien Tage müssen zumindest teilweise gegenfinanziert werden, zusätzliches Personal wird erforderlich. Auf der anderen Seite verspricht sich der Aktiv-Bus-Geschäftsführer durch die höhere Motivation und geringere Belastung seiner Belegschaft einen deutlich niedrigeren Krankenstand.

Personalmangel: Migration bietet Chancen

Großes Potenzial im Kampf gegen den Personalmangel liegt bei Menschen mit Migrationshintergrund. Bislang rekrutieren jedoch lediglich 14 Prozent der Verkehrsunternehmen aktiv Arbeitskräfte aus dem Ausland, so ein Ergebnis der aktuellen VDV-Personalumfrage. Die Sprachkenntnisse sind dabei der Schlüssel zur beruflichen Integration. Erschwerend kommen der Mangel an bezahlbarem Wohnraum in den Städten und bürokratische Hemmnisse bei der Anerkennung von Qualifikationen hinzu. Bisweilen bleiben Mitarbeitende aus dem Ausland nicht lange im Unternehmen, sondern gehen dorthin, wo die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung besser sind – entweder in eine andere Branche oder gleich in ein anderes Land, wo sie sich besser aufgehoben und sicherer fühlen.

Eröffnung des VDV-Personalkongresses: Anja Wenmakers (SWB Bus und Bahn), Ruth Leyendecker (VDV-Akademie) und Oliver Wolff (VDV, v. l.) begrüßten als Gastgebende über 200 Personalfachleute.

Nicht nur Herkunft schafft Vielfalt und damit Potenzial beim Personal. Alex Gessner betonte den Dreiklang von Diversität, Chancengerechtigkeit und einer inklusiven Unternehmenskultur als Erfolgsfaktor, um das gesamte Arbeitsmarktpotenzial auszuschöpfen. Dafür wechselte die Moderatorin des Kongresses vorübergehend in die Rolle der Vortragenden: „Die Menschen wollen nicht in einem Unternehmen arbeiten, wo immer nur Kevin, Uwe und Christian gefördert werden“, spitzte es die Geschäftsführerin der ACI Diversity Consulting zu – mit Blick auf neue Chancen durch eine Vielfalt der Perspektiven. Da könnte in der Branche noch mehr gehen, auch unter den knapp 200 Teilnehmenden. Alex Gessner: „Hier fehlen Menschen im Raum, hier fehlt Lebensrealität.“

Wertschätzung, Werbekampagnen, Werkswohnungen. Klug gestaltete Dienstpläne, die Integration von Langzeitarbeitslosen, Arbeitskräfte aus dem Ausland und mehr Digitalisierung, die jedoch auch nicht alles retten wird. Reicht das aus? Bei Weitem nicht, sagt Ver.di. Die stellvertretende Bundesvorsitzende Christine Behle sah „die Verbesserung von Einkommen und Arbeitsbedingungen als Kern“. „Nicht nur den Busführerschein billiger, sondern auch die Arbeitsbedingungen besser machen“, forderte Andreas Schackert, der bei der Gewerkschaft die Bundesfachgruppe Busse und Bahnen leitet: „Die Politik hat nicht im Herzen verstanden, dass der ÖPNV Geld braucht.“

Mehr Infos und

personalstrategische Positionen:

www.vdv.de/personalbedarf

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