Aus dem Verband

„Über Grenzen hinweg denken“

Der Mobilität in der Metropolregion Mitteldeutschland um Halle, Leipzig und Bitterfeld sind viele echte, virtuelle und scheinbare Grenzen gesetzt. Welche Musterlösungen es zu ihrer Überwindung schon gibt und welche großen Aufgaben noch vor den Entscheidungs- und Verkehrsträgern stehen, war Gegenstand des Business Mobility Brunchs in Leipzig.


Kleinbus: Ein neues Regionalbusnetz und vier Stadtbussysteme führen zu einem verbesserten Nahverkehrsangebot im Landkreis Leipzig.

„Wir dürfen nicht isoliert, sondern wir müssen über Landesgrenzen hinweg denken – eben vom Kunden her.“ Die Herausforderung formulierte Martin Walden, Konzernbevollmächtigter der Deutschen Bahn für Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Zum Brunch geladen hatten der VDV, der Auto Club Europa (ACE), die Verkehrsbetriebe LVB und HAVAG der beiden Städte Leipzig und Halle (Saale) sowie die Initiative „Deutschland mobil 2030“. Aber es taten sich noch weitere Grenzen auf: etwa die zwischen urbanem und ländlichem Raum. Oder die virtuellen Hürden zwischen der Nutzung des eigenen Autos und des öffentlichen Nahverkehrs.

14

Prozent

beträgt der Fahrgastzuwachs bei „Muldental in Fahrt“. Das Projekt verbindet Dörfer und kleine Städte untereinander und mit den S-Bahn-Achsen.

Dass der Abbau gerade dieser Hürden nicht die Verteufelung des Autos bedeuten sollte, unterstrich ACE-Geschäftsführer Stefan Heimlich. „Nicht alle Wege, die erledigt werden müssen, führen einfach von A nach B.“ Oft genug gehe es darum, von A über B und C nach D zu kommen, und das in annehmbarer Zeit. Da sei die Individualität des Autos schwer ersetzbar. Die Zahl der Pendlerinnen und Pendler, wie kompliziert ihr Weg zur Arbeit auch sein mag, geht allmorgend- und abendlich in die Zehntausende.

Können sie aus dem Auto in öffentliche Verkehrsmittel gelockt werden, mindert das nicht nur das Stauproblem und wirkt sich positiv auf die Emissionsbilanz aus, sondern schafft auch Platz für mehr Lebensqualität im städtischen öffentlichen Raum. Überhaupt waren sich die Beteiligten einig, dass kostenloser ÖPNV seine Attraktivität nicht wesentlich steigern dürfte. Ulf Middelberg, der Chef der Leipziger Verkehrsbetriebe, wandte sich kritisch gegen Subventionsbedingungen. „Wäre es nicht besser, mit 6.000 Euro die Bahncard 100 zu subventionieren statt E-Autos?“, fragte er. Stattdessen werde für die Straßenbahn-Förderung der „überwiegend eigene Gleiskörper“ zur Bedingung gemacht, klagte Middelberg. „Das lässt sich in unseren Gründerzeit-Städten schwer bis gar nicht realisieren.“

Verwaltungsgrenzen vs. Verkehrsbedürfnisse

Ein Beispiel, wie die Verwaltungsgrenzen und damit die Fahrtmöglichkeiten oft quer zu den Verkehrsbedürfnissen der Nutzer laufen, führte Jörn-Heinrich Tobaben an, der Geschäftsführer der Metropolregion Mitteldeutschland: „Bitterfeld in Sachsen-Anhalt hat kein Kino. Deshalb wollen die Bürger nach Leipzig in Sachsen ins Kino. Wenn sie nicht mit dem Auto fahren sollen, brauchen sie ein ÖPNV-Angebot, das sie auch nach der Vorstellung wieder nach Bitterfeld bringt.“

Wäre es nicht besser, mit 6.000 Euro die Bahncard 100 zu subventionieren statt E-Autos?

Ulf Middelberg,
Chef der Leipziger Verkehrsbetriebe

Uwe Albrecht, Leipzigs Bürgermeister und Beigeordneter für Wirtschaft, Arbeit und Digitales, räumte selbstkritisch ein, dass sich im Leipziger Norden zwar Konzerne wie Porsche, Daimler und DHL erfolgreich etabliert hätten. „Aber wie weit sind wir mit dem ÖPNV gekommen?“, fragte er rhetorisch. Auch die Wirtschaft bediente sich ungewohnten Vokabulars: „Was im Verkehr stattfindet, ist ja eigentlich eine Revolution“, gab der Präsident der Industrie- und Handelskammer Leipzig, Kristian Kirpal, zu bedenken und forderte mit Blick auf die Regulierung: „Da müssen alte Zöpfe abgeschnitten werden.“

Einfach zu nutzende Systeme und Zahlungsmodelle – hier ein Symbolfoto – erleichtern den Zugang zum Nahverkehr.

Etwa die Fahrkarte. Zumindest in Halle hat sie schon Konkurrenz in Form der „Fairtiq“-App, wie HAVAG-Geschäftsführer Vinzenz Schwarz verkündete. Der Kunde wischt beim Ein- und Aussteigen in Bahn oder Bus nur kurz übers Smartphone, das die Reise registriert und über Konto oder Kreditkarte abrechnet. Das Zahlungsmodell soll nach und nach auf den gesamten Verkehrsverbund ausgedehnt werden.

Ohne Umsteigen geht es oft nicht

Allein das könnte eine Hürde zur besseren Einbindung des ländlichen Raums aus dem Weg räumen. Denn komplizierte Ticket-Automaten sollen auch der Vergangenheit angehören, und ohne Umsteigen geht es oft nicht. In Sachsen-Anhalt etwa wohnen drei Viertel der Bevölkerung nicht in den Städten. Für sie „müssen wir auch passende Angebote finden“, sagte Sebastian Putz, Staatssekretär im Magdeburger Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr.

Hochkarätige Besetzung (v. l. n. r.): René Rebenstorf (Stadt Halle), Steffen Lehmann (Mitteldeutscher Verkehrsverbund), Vinzenz Schwarz (Hallesche Verkehrs-AG), Ulf Middelberg (Leipziger Verkehrsbetriebe), Stefan Heimlich (ACE), Dr. Sebastian Putz (Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr, Sachsen-Anhalt), Kristian Kirpal (IHK Leipzig), Uwe Albrecht (Stadt Leipzig), Stefan Brangs (Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr, Sachsen), Martin Walden (DB) und Jörn-Heinrich Tobaben (Metropolregion Mitteldeutschland)

Ein solches Angebot präsentierte die Zweite Beigeordnete des Landkreises Leipzig, Ines Lüpfert, mit dem Eingangsstatement: „Wir hatten es der Bevölkerung abgewöhnt“, den ÖPNV zu nutzen. Das Wieder-Angewöhnen funktionierte südöstlich der Messestadt mit dem Projekt „Muldental in Fahrt“. Dörfer und kleine Städte sind nun mit den S-Bahn-Achsen und untereinander mit einem integrierten Taktfahrplan so verbunden, dass das eigene Auto öfter mal stehen bleiben kann oder gar überflüssig wird. Der verblüffende Erfolg: „Der kumulierte Fahrgastzuwachs im Projektgebiet beträgt im Zeitraum 2016 bis 2018 circa 14 Prozent“, sagte Lüpfert stolz.

Projekt
„Muldental in Fahrt“

Entwicklung der Fahrgastzahlen von 2017 zu 2018

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