Tourismus
07.05.2019
Unterwegs im Netz

Schräges Wahrzeichen nimmt auch mit 131 Jahren locker den Hausberg

Jede Menge Wasser an Bord, Kurbeln, ein Stahlseil mit Umlaufrad, zwei historische Waggons und eine 438 Meter lange Steilstrecke, die einen Ausblick bis zum Odenwald bietet: Wenn der Frühling kommt, nimmt die Wiesbadener Eswe Verkehr wieder die Nerobergbahn in Betrieb.


Manchmal erfordert Mechanik Muskelkraft und gleichzeitig viel Gefühl. Beides verlangt die Wiesbadener Nerobergbahn ihrem Fahrpersonal ab. Das setzt sich zusammen aus 21 Mitarbeitern und, seit März, einer Mitarbeiterin. In der 131-jährigen Geschichte des heutigen Industriedenkmals ist sie die erste Frau, die als „feste“ Fahrerin vorne an der Kurbel steht. Um diese Kurbel zu bedienen, muss man oder frau nämlich zupacken können.

Ankunft in der Talstation: Der bergab fahrende Wagenführer regelt die Geschwindigkeit der Bahn. Die Zahnräder unter dem Waggon greifen in die Zahnstange und sichern das Fahrzeug.

25

Prozent

beträgt die Steigung an der steilsten Stelle der Nerobergbahn in Wiesbaden.

Zum Personal auf dem Führerstand gehört seit fast zehn Jahren auch Christian Schmidt. Mit einem Dreh löst er die Bremse, und der gelb-blaue Waggon setzt sich von allein in Bewegung. Talwärts. Steil bergab. Der Wagen ist über ein Stahlseil, das in einem Umlaufrad liegt, mit seinem Pendant in der Talstation verbunden. Mit seinem Eigengewicht zieht der bergab rollende Waggon den anderen, leichteren bergauf. Damit das Prinzip funktioniert, muss das bergab rollende Fahrzeug immer ausreichend Ballastwasser im Tank haben. Auf halber Strecke begegnen sich beide Fahrzeuge an einer Ausweichstelle. Während die Fahrgäste ihren Blick über die hessische Landeshauptstadt und den Rhein bis zum Odenwald wandern lassen können, konzentriert sich Christian Schmidt auf die meterspurige Strecke und auf die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs. Hilfe gibt ihm eine Art Tachometer. Dort, wo beim Zifferblatt einer Uhr die Zwölf steht, sollte im Tacho des historischen Waggons die Nadel zittern. Dann ist die ideale Geschwindigkeit von etwa 7,5 Stundenkilometern erreicht. Nimmt die Bahn zu viel Fahrt auf, wird über einen Fliehkraftregler automatisch eine Notbremsung ausgelöst. Aber den Tacho braucht ein erfahrener Bergbahnführer wie Christian Schmidt eigentlich nicht. Sein Gefühl sagt ihm, wann und an welcher Stelle er mit einem Dreh ein wenig abbremsen oder beschleunigen muss. Mit der Kurbel wirkt er dabei auf die Zahnräder unter seinem Wagen ein. Diese wiederum greifen in die Zahnstange, die im Gleis verlegt ist.

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Zwei Wochen dauert die Ausbildung zum Bergbahnführer. Theorie über die Technik, Wiesbadener Stadtgeschichte, Dienstanweisungen und jede Menge Praxis standen auch auf dem Ausbildungsplan der acht neuen Mitarbeiter – meist Studierende, die in dieser Saison erstmals an den Start gegangen waren. In der „Fahrprüfung“ am Ende der Ausbildung zählte wieder das Gefühl: „Dann wird der Tacho nämlich abgedeckt, und die neuen Kollegen müssen die Geschwindigkeit ohne technische Hilfe richtig einschätzen“, berichtet Sabine Füll. Sie ist seit 2015 die Betriebsleiterin der Nerobergbahn. Zuvor arbeitete die studierte Betriebswirtin im Bereich Marketing des Wiesbadener Verkehrsunternehmens. Als sie sich bei ihrer Ausbildung zur Betriebsleiterin nach der Betriebsordnung für Seilbahnen (BO-Seil) auf ihre Aufgabe bei der Nerobergbahn vorbereitete, musste sie sich von manchem der männlichen Teilnehmer die eine oder andere Frotzelei gefallen lassen: „Jetzt kommt eine Frau, die eine Bahn hat, die mit Wasser fährt“, erinnert sie sich. Von ihrem Büro aus, das sich unter dem Dach der kleinen Betriebszentrale im Nerotal befindet, sorgt Sabine Füll mit vier Technik- und Servicemitarbeitern sowie dem Fahrpersonal dafür, dass alles reibungslos läuft. „Die Sicherheit unserer Fahrgäste hat oberste Priorität.“ Daher wird täglich vor Betriebsbeginn ein umfangreiches Prüfprogramm durchgeführt. „Erst wenn alles in Ordnung ist, nehmen wir den täglichen Fahrbetrieb auf“, so Füll. Im vergangenen Jahr beförderte die Bahn mit ihren Waggons in den Stadtfarben über 280.000 Fahrgäste – acht Prozent mehr als 2017 und wohl wegen des Supersommers eine überdurchschnittlich gute Zahl. Die reicht jedoch nicht für ein positives Betriebsergebnis. „Mein persönliches Ziel ist es, mit der Bahn bald eine schwarze Null zu schreiben“, sagt Sabine Füll. „Noch sind wir da nicht dran. Kurz- bis mittelfristig werden wir es aber schaffen.“ Ihr Chef ist jedenfalls mächtig stolz auf das schutzwürdige technische Denkmal in seinem Verantwortungsbereich: „Als Sehenswürdigkeiten hat Wiesbaden unter anderem das Kurhaus und Schloss Biebrich zu bieten“, sagt Eswe-Geschäftsführer Prof. Hermann Zemlin. „Wir haben das schrägste Wahrzeichen der Stadt – unsere Nerobergbahn.“

NEROBERGBAHN: ZAHLEN, DATEN, FAKTEN

Die Nerobergbahn ist Deutschlands älteste und letzte Zahnstangen-Seilbahn, die mit Wasserballast angetrieben wird. Betrieben und unterhalten wird sie von der Eswe Verkehrsgesellschaft. Eröffnet wurde die Bahn am 25. September 1888. Zwischen April und Oktober verkehrt sie auf den 265 Meter hohen Neroberg und überwindet dabei zwischen der Tal- und der Bergstation 83 Höhenmeter. Die Gleise sind 438 Meter lang. Das 452 Meter lange Seil besteht aus acht Litzen, die mit einer Kunststoffeinlage verstärkt sind. An der steilsten Stelle beträgt die Steigung 25 Prozent. Auf etwa der Hälfte der Strecke befindet sich eine etwa 70 Meter lange Ausweichstelle, an der die Wagen aneinander vorbeirollen. In der Zahnstange läuft ein Zahnrad, auf das von beiden Seiten Bremsblöcke einwirken (System Riggenbach).

Ersatzteile gibt es nicht von der Stange

Auch ich bin als Kind mit meinen Eltern oft hier hoch- und wieder runtergefahren.

Sabine Füll,
Betriebsleiterin der Nerobergbahn

Dessen Technik ist robust und wenig störanfällig. Aber ein historisches Verkehrsmittel benötigt viel Aufmerksamkeit und Zuwendung. Beispielsweise müssen die Betriebs- und die Sicherheitsbremsen regelmäßig gewartet und geprüft werden, die Bremstrommeln regelmäßig nachgedreht und Bremsbacken erneuert werden. Ersatzteile gibt es nicht von der Stange. Sie müssen Eins-zu-eins nachgebaut werden – so verlangt es die BO-Seil. Dafür greift das Verkehrsunternehmen auf das bewährte Know-how einer externen Dreherei zurück. Dort begleitet ein 76-jähriger Mitarbeiter die Bahn schon Zeit seines Berufslebens.

Unterdessen kommt Christian Schmidt nach etwa dreiminütiger Fahrzeit in der Talstation an. Sofort wird das Ballastwasser abgelassen und wieder den Berg hinaufgepumpt – bis zu 7.000 Liter fasst der Tank eines Waggons. In 15 Minuten geht die nächste Fahrt retour. So lange dauert es ungefähr, bis das Fahrzeug an der Bergstation genügend Wasser gefasst hat, die Fahrgäste eingestiegen sind und die Türen der Bahnwagen wieder geschlossen sind. Dann fährt es als das schwerere Fahrzeug erneut talwärts und zieht wiederum den Waggon von Christian Schmidt bergauf. Wenn viel Betrieb auf der Bahn ist, lässt sich die Betankung mit einer Zusatzpumpe beschleunigen und so der Takt verkürzen. Einige Minuten vor der Abfahrt verständigen sich beide Fahrer per Funk darüber, wie viele Personen bergauf wollen. So kann der Bahnführer auf dem Berg immer ausreichend Wasser und damit Gewicht an Bord nehmen.

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„Nur gut gelaunte Fahrgäste“

Was die Arbeit für Sabine Füll und ihre Kollegen von der Nerobergbahn so angenehm macht und bei einer reinen Freizeit- und Touristikbahn kaum überrascht: „Bei uns gibt es fast nur gut gelaunte Fahrgäste, die hier eine schöne Zeit verleben möchten“, sagt die Betriebsleiterin. Mit nostalgischem Charme bringt die Bahn die Wiesbadener auf ihren „Hausberg“. Für viele gehören ein anschließender Spaziergang im Grünen, ein Besuch der Russischen Kirche oder das sommerliche Schwimmvergnügen im Opelbad zum festen Familien- und Freizeitprogramm. „Auch ich bin als Kind mit meinen Eltern oft hier hoch- und wieder runtergefahren“, berichtet die gebürtige Wiesbadenerin Sabine Füll: „Ich lebe für die Nerobergbahn.“

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Informationen

unter:
www.nerobergbahn.de

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