Infrastruktur
02.07.2018
Hintergrund

Autopilot auf Schienen

Bessere Anschlusssicherung, höhere Pünktlichkeit und eine optimierte Netzauslastung: Die Digitalisierung des Eisenbahnnetzes wird die Qualität des Schienenverkehrs nachhaltig verbessern, wirtschaftlicher gestalten und für zukünftige Anforderungen fit machen. Der VDV empfiehlt, den Migrationsprozess zur großflächigen Einführung des europäischen Zugsicherungssystems ETCS smart zu regeln, aus den Erfahrungen der anderen Länder zu lernen und die deutschen Besonderheiten zu berücksichtigen. Insbesondere dürfen keine neuen Systemgrenzen zwischen dem Netz der DB und dem der nicht-bundeseigenen Bahnen entstehen.


Den besten Blick auf die digitale Revolution im Schienenverkehr gibt es im Zug ganz vorn. Beim Lokführer. Auf seinem Monitor liest er alle für ihn wichtigen Informationen ab. Aktuelles Tempo, zulässige Höchstgeschwindigkeit, den weiteren Geschwindigkeitsverlauf. Entlang der Strecken, auf denen das System ETCS Level 2 arbeitet, werden keine Vor- und Hauptsignale mehr benötigt. Alle Daten und Fahrbefehle kommen aus der Streckenzentrale direkt ins Cockpit des Zuges. Gleichzeitig werden die Reaktionen des Lokführers und die Fahrt laufend überwacht. Vergleichbar ist das System mit dem Autopiloten im Flugzeug. Aber wie in der Luftfahrt hat auch bei der Eisenbahn der Mensch das letzte Wort.

Wenn die Zugsicherung auf ETCS umgestellt wird, verbessert sich die Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs maßgeblich.

Martin Schmitz, VDV-Geschäftsführer für den Bereich Technik
Fahren ohne Signale: ETCS Level 2
Europäisches Leit- und Sicherungssystem steuert Züge per Funk – auch grenzüberschreitend.

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ETCS ist die Schlüsseltechnologie für den Zugverkehr von morgen. Bereits seit 2015 setzt es DB Netz auf der Schnellfahrstrecke zwischen Erfurt und Leipzig ein. Die Abkürzung steht für „European Train Control System“ – ein international anerkannter Standard, der vor allem den grenzüberschreitenden Verkehr vereinfachen soll. Das Eisenbahnnetz in Europa steht vor einem Modernisierungsschub – eine Mammutaufgabe, die bis in die nächsten Jahrzehnte hineinreicht. Nach dem Willen der Europäischen Kommission sollen bis Mitte der 2020er-Jahre die internationalen Korridore durchgängig mit dem System befahrbar sein. Die aktuellen Vorgaben sehen vor, dass die durch Deutschland laufenden transeuropäischen Verkehrskorridore bis 2030 auf einer Länge von 3.250 Kilometern mit ETCS ausgerüstet werden müssen. Bis 2050 sollen insgesamt 16.000 Kilometer diesen Standard erfüllen. „Wenn die Leit- und Sicherungstechnik umfassend modernisiert und die Zugsicherung auf ETCS umgestellt wird, verbessert sich die Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs maßgeblich. Deswegen befürwortete der VDV auch ein beschleunigtes Flächen-Rollout“, erläutert Martin Schmitz. Die Eisenbahnen könnten ihre Ressourcen effizienter einsetzen und ihre Zuverlässigkeit und Qualität optimieren, so der Geschäftsführer Technik beim VDV.

Eine Einführung von ETCS darf nicht zu Wettbewerbsverzerrungen und neuen technischen oder ­betrieblichen Grenzen in Deutschland und Europa führen.

Joachim Berends, VDV-Vizepräsident für den Bereich Schienengüterverkehr

Die Anfänge sind bereits gemacht. Auch die Umstellung von Stellwerken zählt zu den Voraussetzungen, um die Vorteile der mit ETCS ausgerüsteten Fahrzeuge auch für die Infrastruktur nutzen zu können. Wie die Stellwerksarchitektur der Zukunft aussieht – nämlich eher unscheinbar – lässt sich am Bahnhof Annaberg-Buchholz Süd im Erzgebirge beobachten. Dort steht ein kleines weißes Häuschen, das mit IT prall gefüllt ist. Deutschlands Südosten ist ein weiterer Schauplatz der digitalen Revolution. Nach einer mehrjährigen Probephase ging in Annaberg-Buchholz Europas erstes digitales Stellwerk (DSTW) Ende April in den Regelbetrieb. Von hier aus steuert DB Netz die Züge auf der Erzgebirgsbahn. Da sich die Technik nicht nur für den ländlichen Raum, sondern auch für den Betrieb von Hauptstrecken mit dichter Zugfolge und großen Knotenbahnhöfen eignet, will die Deutsche Bahn sie bundesweit einsetzen.

Künftiger Funkstandard wird derzeit erarbeitet

Neue digitale Systeme leben von der Vernetzung. Wie in der Diskussion im Pkw-Sektor um den Ausbau des 5G-Netzes muss strategisch auch ein Frequenzband mit ausreichender Kanalzahl zur Datenkommunikation vom Bund für die Automatisierung der Schiene bereitgestellt werden. An einem zukünftigen Funkstandard wird unter der Bezeichnung Future Railway Mobile Communication Standard (FRMCS) auf europäischer Ebene gearbeitet. Dieses Nachfolgesystem für GSM-R benötigt ausreichende und exklusive Frequenzbänder – insbesondere für sicherheitsrelevante Funktionen, die langfristig verfügbar bleiben.

Die großflächige Einführung der hoch entwickelten und komplexen Systeme wird aktuell durch eine vom BMVI in Auftrag gegebene Studie untersucht. Es zeigt sich schon jetzt, dass dies mit enormen Investitionen verbunden ist. Schließlich geht es um die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur – eine öffentliche Aufgabe. „Deshalb muss die Finanzierung über die öffentlichen Haushalte sichergestellt werden“, erläutert Joachim Berends, VDV-Vizepräsident für den Bereich Schienengüterverkehr. „Dabei ist es wichtig, dass bundes- und nicht-bundeseigene öffentliche Eisenbahninfrastrukturen gleich oder zumindest vergleichbar behandelt werden“, so Berends, der auch Vorstand der Bentheimer Eisenbahn ist. Sein in der Nachbarschaft zu den Niederlanden beheimatetes Unternehmen betreibt grenzüberschreitenden Schienengüterverkehr und unterhält eigene Eisenbahninfrastruktur. Nicht zuletzt deshalb ist für Joachim Berends klar: „Eine Einführung von ETCS darf nicht zu Wettbewerbsverzerrungen und neuen technischen oder betrieblichen Grenzen in Deutschland und Europa führen.“

Für die Ausrüstung von Fahrzeugen mit ETCS gibt es in Deutschland bisher kein Finanzierungsmodell unter öffentlicher Beteiligung des Bundes.

Veit Salzmann, VDV-Vizepräsident für den Bereich Personenverkehr mit Eisenbahnen

Aber nicht nur bei der Finanzierung der ETCS-Infrastruktur, sondern auch bei der Ausrüstung der Fahrzeuge mit den notwendigen Onboard Units sieht der VDV die öffentliche Hand in der Pflicht. Schließlich wird die „Intelligenz“ des Systems von der Infrastruktur auch in die Führerstände von Lokomotiven und Triebwagen verlagert. „Für die Ausrüstung von Fahrzeugen mit ETCS gibt es in Deutschland bisher kein Finanzierungsmodell unter öffentlicher Beteiligung des Bundes“, erläutert Veit Salzmann, VDV-Vizepräsident für den Bereich Personenverkehr mit Eisenbahnen und Chef der Hessischen Landesbahn (HLB). Während Infrastrukturbetreiber künftig Kosten etwa für Signale und Instandhaltung sparen, müssen Eisenbahnverkehrsunternehmen Fahrzeuge aus ihren Beständen nachrüsten oder Neuanschaffungen teurer bezahlen. Sowohl im Personennahverkehr, wo die Unternehmen mit langfristigen Verkehrsverträgen unterwegs sind, als auch im Schienengüterverkehr, wo die Situation im Wettbewerb mit dem Verkehrsträger Straße angespannt ist, bleibe kein Spielraum, zusätzliche Kosten für Innovationen zu übernehmen, so Veit Salzmann. „Diese Kosten müssen größtenteils durch ein Förderprogramm ausgeglichen werden.“ Denn bevor die Technik nicht großflächig installiert und damit eine Doppelausrüstung nötig ist, haben die Eisenbahnen davon keinen Zusatznutzen, aus dem sie ihre zusätzlichen Kosten refinanzieren können. „Das würde die Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs weiter belasten.“

Vorbildlich ist aus Sicht des VDV Großbritannien, wo der Einbau von ETCS mit bis zu 500.000 Euro pro Fahrzeug gefördert wird. Auch in Dänemark, Österreich, Norwegen und der Schweiz gibt es Fördertöpfe, aus denen die Kosten für die ETCS-­Ausstattung eines Triebfahrzeugs bis zur Hälfte öffentlich mitgetragen werden.

Der VDV hat zu dem Thema ein Positionspapier erarbeitet.


Es steht zum Download unter:
www.vdv.de/positionensuche.aspx

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