Für die Verkehrswende treue Kunden halten und neue hinzugewinnen

Nach 22 Rekordjahren in Folge geht es 2020 vorwiegend um Schadensbegrenzung. Mit dauerhaft niedrigeren Fahrgastzahlen wollen sich die Verkehrsunternehmen jedoch nicht zufriedengeben. Wie in der Coronakrise die Weichen für die Zeit nach der Pandemie gestellt werden können, war Thema des digitalen VDV-Marketingkongresses. Klar ist schon jetzt: Künftig dürfte das Fahrgastmarketing ein anderes sein.

Wir sind keine Zuschuss-Junkies. Wir brauchen Gestaltungsspielräume durch Markterfolg.

Ulf Middelberg, Vorsitzender des Ausschusses für Marketing und Kommunikation im VDV und Geschäftsführer der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB)


Mitten in der Coronakrise hat in den Verkehrsunternehmen an einigen Stellen schon die Zeit danach begonnen. Deutlich wurde das beim VDV-Marketingkongress, der als eine der ersten Branchenveranstaltungen seiner Art komplett digital stattfand. Etwa 80 Teilnehmende tauschten sich auf Einladung des VDV-Ausschusses für Marketing und Kommunikation (AMK) sowie der VDV-Akademie online über Strategien und Musterbeispiele beim Fahrgastmarketing aus. Vor allem ging es dabei um die Auswirkungen der Pandemie auf das Verkehrsverhalten sowie mögliche Reaktionen der Branche. Denn mehr Fahrgeldeinnahmen müssen her. „Wir sind keine Zuschuss-Junkies“, machte AMK-Vorsitzender Ulf Middelberg, Chef der Leipziger Verkehrsbetriebe, deutlich: „Wir brauchen Gestaltungsspielräume durch Markterfolg.“

Da der Klimawandel wegen der Pandemie nicht haltmache, müsse die Branche auch verstärkt daran arbeiten, wieder als Problemlöser bei diesem Thema wahrgenommen zu werden, forderte VDV-Präsident Ingo Wortmann. Um langfristig in die Erfolgsspur zurückzufinden, gelte es, die Basis der treuen ÖPNV-Kunden zu stärken und mit Blick auf die Verkehrswende neue Fahrgäste hinzuzugewinnen. Beim Fahrgastmarketing müssen die Unternehmen „jetzt einen Zahn zulegen“, betonte Ingo Wortmann. Dabei müssten sich die Marketingmitarbeiter „an die Spitze der Bewegung stellen“. Spezielle, flexibilisierte Tarifangebote – etwa für Menschen, die zunehmend von zu Hause aus arbeiten und nur noch wenige Tage pro Woche ins Büro pendeln – oder ein Mehrwert für feste Abos können dafür Lösungsansätze sein. Die Pandemie habe gezeigt, wie wichtig die Weiterentwicklung digitaler Angebote für die ÖPNV-Kunden ist: Verbindungssuche, Routing und Ticketbuchung per Smartphone sollten ausgeweitet werden, so Ingo Wortmann. „Den Barverkauf von Tickets in den Bussen dürfen wir nie wieder komplett einstellen müssen, um Infektionsrisiken zu minimieren“, bekräftigte der VDV-Präsident: „Der dadurch entstandene Schaden ist um ein Vielfaches höher, als es die Investitionen in digitale Ticketangebote und die dafür nötige Hard- und Software gewesen wären.“

Designprozess gestalten statt verwalten

Wie der ÖPNV kundenzentriert weiterentwickelt werden kann, erläuterte Prof. Jan-Erik Baars von der Hochschule Luzern: „Erfolg stellt sich ein, wenn es gelingt, erlebnisorientierte Angebote zu erstellen.“ Wichtig für den Erfolg sei eine klare Definition und Führung eines unternehmensweiten Designprozesses – und der muss gestaltet statt verwaltet werden: „Gute Erlebnisse lassen sich gestalten. Alles was nicht zum Kundenerlebnis beiträgt, kann man weggeben.“

Digitaler VDV-Marketingkongress: Bettina Kerschbaumer-Schramek (oben) führte durch das Programm und behielt die Chat-Funktion mit den Reaktionen der Teilnehmenden im Blick. VDV-Präsident Ingo Wortmann (unten) hob die Bedeutung des Fahrgastmarketings während und nach der Pandemie hervor.

Die Evolution hat jedoch dem Gewohnheitstier Mensch Irrationalitäten mit auf den Weg gegeben, mit denen bei Gestaltungsfragen zu rechnen ist – egal ob es im Kleinen um Mobilitätsangebote (einfache Reiseplanung, einfaches Ticketing, Informationen, Abstand) oder im Großen um die Mobilitätswende (Verkehrsflächen in den Städten neu definieren, Kostenwahrheit politisch umsetzen) geht. Das verdeutlichte Elisabeth Oberzaucher aus Sicht der Verhaltensbiologie. Die Professorin an der Uni Wien sieht in der Covidkrise die Chance, „dass wir aus unseren gewohnten Verhaltensweisen herausgerissen wurden. Neues auszuprobieren, fällt jetzt leichter.“ Um Neukundinnen und Neukunden zu gewinnen, riet Elisabeth Oberzaucher den Verkehrsunternehmen, sich „kluge Einstiegsdrogen zu überlegen“ – wie etwa Schnuppertage, an denen der ÖPNV kostenlos genutzt werden kann.

Prof. Elisabeth Oberzaucher, Prof. Jan-Erik Baars und Camilla Struckmann (v. l.) stellten auf Basis wissenschaftlicher Ansätze erfolgreiche Praxisbeispiele vor.

Aber wie können die Menschen dazu bewegt werden, in Zeiten von Abstandwahren den ÖPNV zu nutzen? Dass sich ein Verkehrsunternehmen trotz Corona mit den Themen Klimaschutz und seine Bedeutung für das Gemeinwohl und das gesellschaftliche Leben vor Ort positionieren kann, verdeutlichte Camilla Struckmann, Chief Communication Officer beim dänischen Verkehrsunternehmen Movia: „Öffentliche Verkehrsmittel sind Teil einer größeren Lösung.“

Synergien durch Kampagne #BesserWeiter

Das zeigt, wie wichtig unsere Bemühungen bei den Stammkunden gewesen sind.

Jan Bleis, stellv. Vorsitzender des AMK und Vorstand der Rostocker Straßenbahn AG, zur weitgehend unveränderten Nutzung von Abos

Der Weg zurück zu mehr Fahrgästen führt über eine intensivere Image- und Kommunikationsarbeit. Angesichts der nur mit der Verkehrswende zu erreichenden Klimaziele müsse vor allem die Rückgewinnung und Akquise von (Neu-)Kunden „tariflich und kommunikativ in den Blick genommen werden“, hob auch Dr. Jan Schilling, VDV-Geschäftsführer ÖPNV, hervor und machte deutlich, dass die Kommunikation der Branche den neuen Aufgaben angepasst werden müsse: „Wir müssen gemeinsam lauter und mutiger kommunizieren.“ Ein Beispiel, wie die Branche gemeinsam Synergien schafft und mehr erreichen kann, ist die laufende Kampagne #BesserWeiter. Mit ihr versuchen die Verkehrsunternehmen gemeinsam mit Bund, Ländern und Kommunen, das Vertrauen der Fahrgäste in den ÖPNV zurückzugewinnen.

Die Hauptgründe für den Fahrgastschwund sehen die Unternehmen allerdings weniger in diffusen Ansteckungsängsten bei den Fahrgästen als vielmehr in fehlenden Anlässen, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Denn viele Menschen sind in Kurzarbeit, arbeiten oder studieren von zu Hause aus, Großveranstaltungen und Volksfeste sind abgesagt, der Tourismus ist eingestellt, Profi-Fußball wird ohne Fans gespielt. Der Zäsur müssen nun die notwendigen Veränderungen folgen. „Es wäre nicht das erste Mal, dass solche einschneidenden Neuerungen aus dem Marketing heraus entstehen“, ermutigte VDV-Präsident Ingo Wortmann seine Zuhörerinnen und Zuhörer, in den kommenden Monaten und Jahren noch viel mehr vom Fahrgastmarkt aus zu denken und zu handeln.

Lauter und mutiger müsse die Kommunikation der Branche werden, forderte Dr. Jan Schilling, VDV-Geschäftsführer ÖPNV.

Aktuelle Ergebnisse aus der Marktforschung hatte zuvor Jan Bleis den Kongress-Teilnehmenden präsentiert. Der stellvertretende AMK-Vorsitzende erläuterte anhand einer repräsentativen Umfrage, wie sich seit Beginn der Pandemie der Verkauf von Tickets und die Nutzung einzelner Angebote verändert haben. Demnach steigt an ein bis zwei Tagen in der Woche die gelegentliche, während die regelmäßige ÖPNV-Nutzung sinkt. Vor allem durch die verstärkte Arbeit von zu Hause aus werden doppelt so viele Wochentickets, aber nur noch halb so viele Monatstickets ohne Abo gekauft. Gegenüber der Vor-Corona-Zeit änderte sich dagegen die Nutzung von Einzel- und Mehrfahrtentickets sowie von Abos nur geringfügig. „Das zeigt auch, wie wichtig unsere Bemühungen bei den Stammkunden gewesen sind“, sagte Jan Bleis, der „im Hauptberuf“ Vorstand Markt und Technik bei der Rostocker Straßenbahn AG (RSAG) ist. Zudem gab er einen Einblick, wie und auf welchen Kanälen die Kommunikation der wichtigsten Corona-Schutz-Maßnahmen – Mund-Nase-Schutz, regelmäßige Fahrzeugreinigung, Abstandhalten – wahrgenommen wurde. Die Marketingfachleute erfuhren, dass die Aufmerksamkeit dafür am besten in den klassischen Medien gewonnen wurde. Über alle Altersgruppen hinweg erwiesen sich TV und Radio als die besten Kanäle, gefolgt von Zeitungen und Zeitschriften sowie Kommunikation in den Fahrzeugen und Stationen. Erst mit Abstand folgten Onlinemedien – Internetseiten von Regierungen und Verkehrsunternehmen sowie Social Media.

„Könnte ein Format für die Zukunft sein“

Auch in seiner digitalen Variante gab es beim VDV-Marketingkongress Gelegenheiten zur Gruppenarbeit und zum Austausch in Workshops. Insgesamt fanden die Teilnehmenden die Veranstaltung technisch und inhaltlich gelungen. „Es war wirklich gut – geht eben auch digital“, hieß es in einem der zum Abschluss geposteten Kommentare. Und ein anderer: „Könnte ein Format für die Zukunft sein, auch wenn weniger Austausch ist als bei persönlichen Treffen.“

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