Innovationen
20.06.2023

Dieselbusse schonen
das Klima mit Bioabfall

Die Transformation des ÖPNV in die klimaneutrale Zukunft kommt Schritt für Schritt voran, doch es wird Jahre dauern, bis der letzte Linienbus mit Dieselantrieb von der Straße verschwunden ist. Die Verkehrsbranche sucht deshalb nach Lösungen, die Emissionen des Verbrennungsmotors für die Übergangszeit auf andere Weise zu mindern. In einem aktuellen Positionspapier beschreiben die Experten des VDV die Möglichkeiten, Dieselkraftstoff durch hydriertes Pflanzenöl zu ersetzen. Die STOAG, Verkehrsbetrieb der Stadt Oberhausen, startet mit zwei Bussen einen Praxistest dieser klimafreundlichen Alternative.

90

Prozent

 weniger
CO2-Ausstoß
mit HVO gegenüber
herkömmlichem Diesel


Die Vorurteile sind immer wieder zu hören: Die Busse fahren angeblich mit „Frittenfett“, und aus dem Auspuff stinken sie dann wie eine „Pommesbude“. Mehr noch: Statt kostbare agrarische Naturerzeugnisse für die Ernährung zu nutzen, würden sie in Dieselmotoren verheizt – die in Fachkreisen sogenannte „Tank-Teller-Debatte“. Stefan Thurm, Chef der Werkstatt und des STOAG-Betriebshofes, winkt ab. Vorurteile eben: „Es geht ausschließlich um biogene Abfallstoffe, die haben in der Küche nichts mehr verloren. Die Bundesregierung will die Bundesimmissionsschutzverordnung verschärfen und klar festschreiben, dass keine Lebensmittel, nur gebrauchtes Speiseöl und insbesondere kein Palmöl verarbeitet werden.“ Mit der Hydrierung würde die goldgelbe, sämige Flüssigkeit zudem einen chemischen Prozess durchlaufen, in dem, so Thurm, „nichts von den Wohlgerüchen der Fritteuse übrig bleibt“.



HVO 100 heißt die alternative Energiequelle für den Dieselbus. Die Abkürzung von „Hydrotreated Vegetable Oil“ bedeutet auf Deutsch: hydriertes Pflanzenöl. Die Zahl 100 gibt dabei an, dass es sich zu 100 Prozent um einen HVO-Kraftstoff und keine Mischung mit fossilem Dieselbrennstoff handelt. Die Hydrierung – für Chemie-Asse erklärt: eine katalytische Reaktion mit Wasserstoff – lässt ein Produkt entstehen, das in der chemischen Zusammensetzung weitgehend der von Dieselkraftstoff entspricht. Vereinfacht beschrieben: Die öligen Küchenreste und andere natürliche Abfälle – zum Beispiel Algen und Öl-Rückstände, die beim Recycling von Kunststoff frei werden – werden in Kohlenwasserstoffe verwandelt. Und damit eignen sie sich als Sprit für dieselnde Verbrennungsmotoren. Den entscheidenden Unterschied, der HVO so attraktiv für die Verkehrsunternehmen machen könnte, beschreibt Stefan Thurm so: „Wir können bisherigen Untersuchungen anderer Institutionen und Unternehmen zufolge mit einer erheblichen Reduktion von CO2-Emissionen rechnen, möglicherweise sogar um bis zu 90 Prozent. Und damit gilt ein derart betriebenes Fahrzeug nach den EU-Vorschriften zwar nicht als emissionsfrei, aber doch als sauber.“

Fertig für den Praxistest: ­Betriebshofchef Stefan Thurm beim Tankvorgang mit HVO 100. Das geht genauso wie beim Tanken von Diesel.

Mehr Klimaschutz vor dem Diesel-Ende

Der Kraftstoff HVO 100 könnte so den Verkehrsbetrieb der STOAG – und anderer Unternehmen – weit vor dem Ende der Diesel-Ära klimafreundlicher machen – als Überbrückungslösung neben der schrittweise geplanten Umstellung auf die neue Generation batterieelektrischer Busse. „Die Clean-Vehicles-Directive (CVD) der EU zwingt die Verkehrsunternehmen zu einer schnellen, kontinuierlichen Beschaffung von emissionsfreien Fahrzeugen mit festen zeitlichen Vorgaben für die kommenden Jahre“, sagt Werner Overkamp, STOAG-Geschäftsführer und VDV-Vizepräsident: „Damit ist der politische Druck zur Dekarbonisierung im ÖPNV deutlich gewachsen.“ Da die in der CVD-Richtlinie vorgegebenen Quoten in Deutschland branchenweit – und nicht einzeln von Unternehmen zu Unternehmen – zu erfüllen sind, komme der Einsatz klimafreundlicher Alternativen neben der Beschaffung der neuen Busgenerationen mit Batterieelektrik oder Wasserstoff der gesamten Branche zugute. Und das völlig unabhängig davon, wie die Klimawende vor Ort angegangen wird: „Als Branchenverband haben wir eine technologieoffene Haltung und wollen es letztlich unseren Unternehmen überlassen, wie sie in die emissionsfreie Zukunft fahren“, betont Werner Overkamp.

Das betreffe natürlich auch die STOAG. „Für unseren Fuhrpark von 130 Bussen brauchen wir im Jahr etwa 2,7 Millionen Liter Dieselkraftstoff“, rechnet Stefan Thurm vor. Derzeit ließen sich durch eine vollständige Dekarbonisierung durch eine vollständige Umstellung auf andere Antriebsarten wie beim Batteriebus 7.200 Tonnen CO2 einsparen. Das geschehe zwar ohnehin sukzessive durch die Beschaffung von E-Bussen, könne aber durch die HVO-100-Lösung schneller erreicht werden. Dabei ist die Dieselflotte mit einem Durchschnittsalter von sechs Jahren nicht nur jung, sondern auch hochmodern, gerade was die Reduktion von Abgasemissionen betreffe. Auch hier spielt HVO seine Stärken aus: So sind alle Fahrzeuge mit einem Abgasnachbehandlungssystem ausgestattet, das Stickoxide eliminiert. Dieses System braucht für eine effiziente Wirkungsweise die Betriebswärme aus dem Fahrbetrieb, und die ist auf Nebenstrecken mit geringer Frequenz wegen längerer Standzeiten im Leerlauf nicht immer erreichbar.

Der entscheidende Tipp kam von einem weiteren, im Stadtwerke-Konzern tätigen Unternehmen: „Unsere Wirtschaftsbetriebe haben mit ihrem Fuhrpark ähnliche Probleme mit der Funktionalität der verbauten Abgasnachbehandlungssysteme, und die haben durch Tests herausgefunden, dass mit HVO 100 getankte Entsorgungsfahrzeuge deutlich weniger Störungen und auch weniger Wartungsaufwand an den Abgasnachbehandlungssystemen notwendig sind“, berichtet Stefan Thurm: „Jetzt gilt es erst einmal, eigene Erfahrungen zu sammeln. Technisch scheint das hydrierte Pflanzenöl gegenüber dem Dieselkraftstoff einige Vorteile zu haben, insbesondere im Winterbetrieb.“ Der alternative Stoff zeichne sich außerdem durch ein besseres Zündungsverhalten (Cetanzahl) aus, er verbreite mangels Aromaten keinen Geruch wie der Diesel, und er entwickele weniger Ruß. Das sind Erfahrungen, die andere Unternehmen mit HVO 100 gemacht haben. Gespannt wartet Werkstattleiter Stefan Thurm nun auf eigene Testergebnisse. Diese müssen dann auch betriebswirtschaftlich bewertet werden. Denn derzeit kostet der saubere Kraftstoff rund 20 Prozent mehr als die herkömmliche Tankfüllung. Von positiven Erfahrungen im Betriebsalltag berichtet bereits die Deutsche Bahn: Die Tochter DB Cargo betankt ihre Dieselrangierloks für die „letzte Meile“ in Terminals, Häfen und auf dem Werksgelände ausnahmslos mit dem Biokraftstoff.

Mal kurz schnuppern: Der Kraftstoff ist sauber und praktisch geruchlos. Rechts ein Blick auf die Technik des Tankcontainers.

HVO ist am Markt problemlos erhältlich

Mit einem Solobus und einem Gelenkbus geht Oberhausen in den Linienbetrieb mit der biogenen Alternative. In der Waschhalle auf dem Betriebsgelände ist eine provisorische Tankstelle eingerichtet: Ein quaderförmiger Tank, aufgestellt gleich neben der Busspur, mit 1.000 Litern Fassungsvermögen, genug um dreimal einen Bus vollzutanken. Er wurde von einem der Diesellieferanten des Verkehrsunternehmens in die Halle gestellt und wird von ihm regelmäßig befüllt. Derzeit sei HVO am Brennstoffmarkt völlig problemlos zu erhalten, es bleibe aber abzuwarten, wie sich das im Falle einer rasant steigenden Nachfrage entwickelt, meint der stellvertretende Betriebsleiter. Entscheidend für die STOAG ist zunächst einmal, dass der eigentliche Tankvorgang mit der Zapfpistole genauso abläuft wie an der Dieseltanksäule. Und genauso entscheidend: Für die Busfahrer gibt es überhaupt keinen Unterschied, mit welchem Stoff sie auf die Linie gehen; erwartet wird ein völlig identisches Fahrverhalten der Busse. Und so mussten in den beiden Pionierfahrzeugen keine technischen Vorkehrungen oder gar Veränderungen installiert werden.

Vorerst bleiben die beiden Testfahrzeuge Einzelgänger in der Flotte. Und sie bekommen den hundertprozentigen sauberen „Saft“ in die Tanks. Theoretisch wäre es möglich, Dieselkraftstoff und HVO zu mischen, doch da ist, wie Stefan Thurm beschreibt, „die Steuerbürokratie davor“. Es ist schwer vorstellbar: Das umweltfreundliche Produkt ist zwar ein vollständiger Ersatz und vollkommen identisch verwendbar. Doch das Finanzamt macht da penibel Unterschiede. Und so muss mit jeder Tankfüllung sorgsam registriert und dokumentiert werden, wo welcher Kraftstoff in die Busse fließt.

HVO: Was der VDV empfiehlt

„Reif für den Verkehr“: Diese Erkenntnis bestimmt das „Positionspapier HVO 100“ des VDV. Branchenübergreifend haben Fachleute überwiegend aus der Verkehrs- und Logistikbranche zusammengetragen, welche Umweltvorteile HVO 100, aber auch HVO aus Mischungen mit Dieselkraftstoff für die Verringerung der CO2-Belastungen im Verkehr versprechen. Kernbotschaft ist die Forderung, den Kraftstoff als DIN-Norm zu klassifizieren und dies in die Bundesimmissionsschutzverordnung aufzunehmen. Dann kann die biogene Alternative pro­blemlos von Unternehmen wie den Verkehrsbetrieben genutzt werden – vorausgesetzt, es gibt für die Fahrzeugflotte eine eigene Tankstelle auf dem Betriebshof. Das VDV-Positionspapier entwickelt aus den Erkenntnissen Handlungsempfehlungen für die politischen Entscheidungsträger:
bit.ly/3Nfq7C4

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