Infrastruktur
15.12.2021

Die Bahn taucht unter wachsamen Augen ab

Ein gelbes U auf hellgrauem Grund: Auf den ersten Blick eher untypisch für den deutschen ÖPNV gingen Straßen- und Stadtbahn in der Karlsruher Innenstadt zum internationalen Fahrplanwechsel am 12. Dezember in den Untergrund. Nach zwölf Jahren Bauzeit gewinnt die City mit gut drei Tunnelkilometern die Lebensqualität einer bahnfreien Fußgänger-Einkaufsmeile. Und das weit ins Umland reichende „Tram-Train“-Netz beschleunigt den Schienennahverkehr ins Herz der traditionsreichen Residenzstadt.

12

JAHRE

Diese Bauzeit ist nun zu Ende gegangen. 3,2 Tunnelkilometer werden künftig von neun Stadtbahn- und Straßenbahnlinien genutzt: ein 1,5-Milliarden-Euro-Projekt.


Ein Bürgerentscheid ebnete nach der Jahrtausendwende den Weg in die neue Zukunft des Karlsruher Nahverkehrs, für die komplett stolze 1,5 Milliarden Euro investiert werden – finanziert zu großen Teilen mit Mittelzuweisungen des Bundes aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) sowie aus der baden-württembergischen Landeskasse. 70 Prozent der Bewohner äußerten sich seinerzeit in einer Bürgerbefragung zu dem Projekt, 58 Prozent sprachen sich dafür aus. Berücksichtigt wurde auch einer, der sich schon lange nicht mehr selbst zu Wort melden kann: Markgraf Karl Wilhelm von Baden-Durlach (1679 - 1738) – der Stadtgründer. Seine letzte Ruhestätte mitten auf dem Marktplatz beeinflusste die Planungen hinsichtlich der Trassenführung: Die Kommunalpolitik entschied, dass das von einer steinernen Pyramide gekrönte Grabmal von Bahntunneln nicht unterquert werden durfte. Das Projekt besteht aus einer rund 2,4 Kilometer langen Ost-West-Strecke, von der unter dem Marktplatz aus beiden Richtungen ein 1,5 Kilometer langer Abzweig Richtung Süden, Richtung Hauptbahnhof, führt.

Entstanden ist in unmittelbarer Nachbarschaft des Stadtgründer-Grabes ein unterirdisches Gleisdreieck, das betriebstechnisch eine Besonderheit in den deutschen U-Bahn-Netzen darstellt: Wie zu ebener Erde auf einer Straßenkreuzung biegt die Südstrecke ab und kreuzt dabei niveaugleich die Gegenverkehrsgleise. Sicher möglich wird das durch ein automatisiertes und rechnergesteuertes, hochmodernes Betriebskonzept für anspruchsvolle Anforderungen: Neun Linien nutzen den Tunnel, in dem sieben U-Bahnhöfe nur extrem kurze Haltestellenabstände von durchschnittlich 250 Metern haben. Geplant sind Zugfolgen von hundert Sekunden in der Hauptverkehrszeit; im Durchschnitt stoppt alle 90 Sekunden eine Bahn im Untergrund.

Fahren nach Signalen ist etwas anderes als Fahren auf Sicht: 1.200 Fahrzeugführer und -führerinnen haben im Tunnel den neuen Fahrplan-­Alltag geübt.

Alle 100 Sekunden eine Bahn

„Das ist eine ziemlich große Herausforderung für uns alle“, betont Jürgen Fitterer aus der Leitstelle der Verkehrsbetriebe Karlsruhe (VBK). „Wir mussten uns zunächst mit den gesetzlichen Sicherheitsvorschriften für den Tunnelbetrieb vertraut machen.“ Der große Unterschied: Überirdisch fährt die Straßenbahn nach den Vorschriften der „BOStrab“, der Betriebsordnung Straßenbahn. Und da gilt: Der Trampilot fährt „auf Sicht“. Wie ein Autofahrer: Er sucht sich, auf seinem Gleis zwar, aber selbstständig seinen Weg durch den Straßenverkehr. Im Tunnel ist das anders. Da zeigen Signale den Fahrerinnen und Fahrern an, ob, wann, wie schnell und wohin sie fahren dürfen. Der neue Begriff: Sie fahren im „Sichtabstand“, so ähnlich wie die große Eisenbahn nach ihrer EBO, der Eisenbahnbetriebsordnung, im Blockabstand, gesichert von Signalen.

Signale und Weichen steuert das elektronische Stellwerk, das die VBK für ihren Untergrundbetrieb aufbauen musste. Untergebracht sind die Installationen des Stellwerks in einem Serverraum unter dem Marktplatz – auch nah am Markgrafen. Überwacht und im Notfall angesteuert werden sie über Bildschirme in der Zentralen Leitstelle im Karlsruher Osten. Dort finden auch die Schulungen der Tunneldisponenten statt – an einem Stellwerkssimulator, der sämtliche Funktionen des Betriebes nachstellen lässt. Mit einer einfachen Logik: Freie Gleise leuchten grün auf, von Bahnen belegte Abschnitte rot; erkennbar sind Signale und Weichen in der jeweiligen Stellung. „Wie die Fahrer zu fahren haben, wird im Stellwerk entschieden“, erklärt Jürgen Fitterer.

Manager des Tunnelbetriebs: Jürgen Fitterer (vorne) und Thomas Gramlich vom Team des Stellwerks, hier noch in der Simulatorschulung

Die Bildschirme des Simulators sehen so aus wie die im Stellwerk. Und schon vor der ersten Zugfahrt im Tunnel lief hier der Bahnbetrieb nach Fahrplan. Mit kleinen Fehlern, die der Alltag möglichst nicht haben soll: Da schlägt ein Gong an, die Weiche 912 blinkt und lässt sich nicht stellen. Oder am Signal vor der Einfahrt in den Bahnhof Ettlinger Tor fällt das grüne Licht aus. Rund 40 Fachkräfte aus der Leitstelle, gelernte Verkehrsmeisterinnen und Verkehrsmeister, lernten in der Fortbildung in Theorie und Praxis, was dann zu tun ist. Nach bestandener Prüfung mit 30 schriftlichen Fragen und einer Stunde „live“ im Simulator wurden sie zu Tunneldisponentinnen und -disponenten. Sie sind, wie die VBK-Pressestelle locker formulierte, die „wachsamen Augen des Tunnelbetriebs“ – als Herrscher über 62 Lichtsignale und 13 Weichen in wechselnder Besetzung rund um die Uhr im Einsatz.

Bei allen Beteiligten muss jeder Griff, jede Entscheidung sitzen. Denn der 100-Sekunden-Abstand in der Zugfolge macht schon aus geringen Verzögerungen einen Bahnstau im Tunnel und auf den Zulaufstrecken in der Innenstadt. Lernen müssen auch die Fahrer. Rund 1.200 von der VBK, der Albtal-Verkehrs-Gesellschaft und der Deutschen Bahn absolvierten die Fahrschule erneut – in einer eigens konzipierten Ausbildung für den Tunnel mit einem theoretischen Teil, in dem beispielsweise sämtliche Signale eingeübt wurden, und einem eintägigen Praxisteil. Absolutes Neuland für alle ist die „Nbü”, die Notbremsüberbrückung. Wenn ein Fahrgast im Tunnel die Notbremse zieht, wird er darüber informiert, dass der Zug bis zum nächsten Bahnsteig weiterfährt. Ein genaues Procedere ist für diesen Fall vorgeschrieben, „und das muss alles in die Köpfe der Fahrer“, sagt Ausbilder Patrick Keßler.

Lichtgespinste und Lüpertz-Kunst

Das oberirdische Netz war schon seit Langem an der Kapazitätsgrenze und stark beeinflusst vom Verkehr drumherum. Dank des Tunnels wird unsere Stadtdurchfahrt nun deutlich schneller.

Dr. Alexander Pischon, Geschäftsführer der VBK und KASIG

Den Fahrgast muss das alles nicht sorgen. Seine Bahnen kennt er. Die neuen Bahnhöfe öffnen sich in weitläufiger, heller Großzügigkeit. Sie sind einheitlich gestaltet. Achim Winkel von der Karlsruher Schieneninfrastruktur-Gesellschaft (KASIG) erklärt: „Abgesehen von Variationen im Zuschnitt von Zu- und Abgängen, die sich an der jeweiligen oberirdischen Bebauung ausrichten mussten, ist an den verschiedenen Haltestellen alles ziemlich identisch.“ Filigrane „Lichtgespinste“ aus LED-Lampen in der Form klassischer Neonleuchten machen die zweigleisigen Stationen fast taghell. Die Bahnsteighöhen versprechen zweifache Barrierefreiheit: Ganz vorne kurz vor dem nächsten Tunneleingang sind sie etwas höher für den stufenlosen Einstieg in die Stadtbahn. Der übrige Bereich ermöglicht barrierefreien Einstieg in die Trams, die eine etwas niedrigere Einstiegshöhe haben. Ein renommiertes Architektenbüro hat den Zweckbauten Eleganz gegeben. Und der 80-jährige Künstler Markus Lüpertz, der mal in Karlsruhe wirkte, soll mit 14 Keramik-Reliefs die sieben Bahnhöfe künstlerisch wertvoll machen. Sein Thema ist anspruchsvoll wie das Gesamtprojekt: „Die Schöpfung“.

„Wir tauchen ab und machen oben Platz für Neues, das ist die Aufgabe unseres Projekts für die Karlsruher Bürgerinnen und Bürger”, sagt VBK- und KASIG-Geschäftsführer Dr. Alexander Pischon. „Das oberirdische Netz war schon seit Langem an der Kapazitätsgrenze und stark beeinflusst vom Verkehr drumherum. Dank des Tunnels wird unsere Stadtdurchfahrt nun deutlich schneller.“ Das „U” in Gelb dokumentiert bewusst den kleinen Unterschied: Technisch ist die Karlsruher Tunnelbahn gar kein U-Bahnsystem. Auch wenn’s unterirdisch genauso aussieht.

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