Infrastruktur
12.09.2022

Fitnessstudio für die
Dampflokveteranen

Schwere Instandhaltung – das ist im Leben von Schienenfahrzeugen alle paar Jahre so etwas wie ein Jungbrunnen. Es ist die Hauptuntersuchung, bei der jede Lok bis zur letzten Schraube auseinandergenommen wird. Die Harzer Schmalspurbahnen (HSB), Betreiber von 17 Dampfloks und 140 Kilometern Strecke, machen das jetzt in eigener Regie. Am Firmensitz in Wernigerode geht eine blitzsaubere, nagelneue Dampflokwerkstatt in Betrieb.


Rund 70 Meter lang, fast 14 Meter hoch: Als „Ufo“ ist der Neubau gleich neben dem Bahnhof Wernigerode-Westerntor schon bezeichnet worden – in der auf ihre bunten Fachwerkhäuser stolzen Stadt am Nordrand des Harzes. Daneben nun ein nüchterner Industriebau, mit hochmoderner Werkstatttechnologie ausgestattet, um die Traditionen und die Erlebnisse der andernorts verflossenen Ära Dampf auf Schienen weiter erhalten zu können. So ist der Bahnbetrieb längst zum Tourismusmagnet geworden: Jeder sechste Urlaubseuro, der in der Region ausgegeben wird, ist auf die Aktivitäten auf der schmalen Gleisspur zurückzuführen. Mehr noch, so ergab eine Studie: Wer wegen der Bahn kommt, bleibt im Schnitt zwei Tage länger im Harz als andere Feriengäste.

Eine sich über zwei Etagen öffnende Fensterfront unter dem großen Schriftzug „Dampflokwerkstatt“ deutet an, dass mit dem Neubau eine weitere Attraktion für die Fans der guten alten Eisenbahnzeit geschaffen wird. Es gibt Einblicke: Wer mag, kann vom nächsten Jahr an von einer Empore in der Werkstatt von oben den Monteuren und Mechanikern bei der Arbeit im Fitnessstudio für die bis zu 125 Jahre alten Dampflokveteranen zuschauen. Und um das Gebäude herum entsteht, mit finanzieller Unterstützung des Landes Sachsen-Anhalt, ein „Eisenbahn-Lern-und Erlebnisgelände“, mit Informationen, Shop und Kinderspielplatz. Highlight ist eine „Wasserspiel-Lok“, bei der Kinder erfahren, warum die schwarzen, schnaufenden Ungetüme immer so einen großen Durst haben.


Werkstattarbeit auf dem Stand der Technik: Christoph Küster-Runge (l.) im Gespräch mit John-Pierre Hübner, der Bereichsmeister Schwere Instandhaltung ist.



„Viele Dinge ganz anders anpacken“

In einem entscheidenden Punkt wird aber mit Traditionen gebrochen. Klar ist zunächst, dass die Werkstatt auf dem aktuellen Stand der Technik arbeitet. „Wir werden viele Dinge ganz anders anpacken, als das bisher in der schweren Instandhaltung von Triebfahrzeugen üblich ist“, sagt Christoph Küster-Runge, bei den ­Harzer Schmalspurbahnen (HSB) für die Fahrzeugtechnik verantwortlich und an der Entwicklung der neuen Werkstatt beteiligt. Der Maschinenbauingenieur ist mit seinen 33 Jahren bestimmt kein „alter Eisenbahner“, aber der dampfenden Technik seit Kindesbeinen verbunden. Denn: „Ich bin Wernigeröder.“

Eine andere Tradition will Christoph Küster-Runge ebenfalls nicht fortführen: Die neue Werkstatthalle wird keine Erlebnisse für die Nase bieten. Während Öle und Ruß in althergebrachten Zentren der Lokomotivbearbeitung bisher für einen typischen „Duft“ sorgen, wird es in Wernigerode fast schon klinisch rein zugehen. Dafür sorgt das eigens entwickelte Instandhaltungskonzept. In einem ersten Schritt findet in der bestehenden, beinahe schon 100 Jahre alten Werkstatt das sogenannte „Auswaschen“ statt. Es ist eine intensive Säuberung der Maschinen, um die Spuren und den Schmutz des täglichen Betriebs weitgehend zu tilgen. Erst danach geht es in die neue Halle, mit kaltem Kessel und ohne Rauchfahne, geschoben von einer Diesellok. Die fährt die Probanden in den „Schwarzbereich“ der Werkstatt. Das ist das Demontagegleis, ein Hubgleis, das per Hydraulik die Maschinen für den Teileausbau anhebt. Große Brocken wie die Dampfkessel werden per 30-Tonnen-Kran zur weiteren Bearbeitung entfernt und auf einem „Kesselwagen“ transportabel gemacht. Schwarzbereich deshalb, weil das Auswaschen zuvor nunmehr beim Auseinandernehmen der Loks zwangsläufig fortgesetzt werden muss, um eine Rundum-Sauberkeit zu erreichen. Dafür gibt es hinter Glas einen Kombistand: Dort werden die Komponenten Stück für Stück in einer Spezialwaschmaschine gereinigt, bei Bedarf vom alten Lack befreit oder neu lackiert.

Sie nahmen die neue Werkstatt symbolisch in Betrieb (v. l. n. r.): Matthias Wagener (HSB-Geschäftsführer), Susann Arnhold-Wind (Fachbereichsleiterin beim Landkreis Harz), Uwe John (HSB-Abteilungsleiter Infra­struktur), Sven Schulze (Minister für Wirtschaft, Tourismus, Landwirtschaft und Forsten des Landes Sachsen-­Anhalt), Matthias Jendricke (Landrat des Landkreises Nordhausen), Peter Gaffert (Oberbürgermeister Wernigerode und HSB-Aufsichtsratsvorsitzender), John-Pierre Hübner (HSB-Bereichsmeister Schwere ­Instandhaltung), Prof. Dr. Armin Willingmann (Minister für Wissenschaft, Energie, Klimaschutz und Umwelt des Landes Sachsen-­Anhalt) und Sven Haller (Staatsekretär im Ministerium für Infrastruktur und Digitales des Landes Sachsen-Anhalt).


Diverse Fachwerkstätten unter einem Dach

Das ist der Auftakt für das volle Programm mit diversen Stationen in unterschiedlichen Fachwerkstätten unter dem hohen Hallendach. Nach der Zerlegung bis zur letzten Schraube beginnen Ausbesserungsarbeiten in der Kesselschmiede, der Fahrwerksbearbeitung oder in der Elektrogeneratoren-Werkstatt, um nur drei von gut einem Dutzend Stationen zu nennen. In rund 4.000 Einzelteile werden die Lokomotiven zerlegt. Zum Wiederaufbau nach der Instandsetzung kommt dieses gigantische Puzzle in den „Weißbereich“ der Werkstatt. Ob sich alle Teile wiederfinden? Ja, sagt Christoph Küster-­Runge. Es müsse natürlich alles ordentlich bis in die Details dokumentiert und sortiert werden. „Das ist ja kein Hexenwerk, die schwere Instandhaltung, das wird schon seit Generationen so gemacht.“ Und übereilt wird nichts: „Wenn wir zwei Loks im Jahr hier durchziehen, dann ist das schon in Ordnung.“ Alle acht Jahre müssen die Triebfahrzeuge – wie alle modernen Lokomotiven auch – den Check gewissermaßen auf Herz und Nieren über sich ergehen lassen. Das ist Gesetz und dient dem Erhalt der Funktions- und Leistungsfähigkeit und natürlich der Sicherheit.

Bisher wurden die Hauptuntersuchungen der HSB-Maschinen im Dampflokwerk der Deutschen Bahn im thüringischen Meiningen durchgeführt. Per aufwändigem und spektakulärem Straßentransport auf einem Tieflader wurden die rund 70 Tonnen schweren Fahrzeuge dorthin gebracht und wieder abgeholt. Ein kompliziertes und kostspieliges Verfahren, das den Gedanken einer Inhouselösung in der HSB wachsen ließ. Die GmbH ist ein kommunales Bahnunternehmen, dessen Gesellschafter viele Kommunen und Kreise entlang der Schienenstränge im Harz sind. Sie ist mit Dampf- und Dieselbetrieb ein Eisenbahnverkehrs­unternehmen des Schienenpersonennahverkehrs, bei dem die Bundesländer Sachsen-Anhalt und Thüringen per Verkehrsvertrag Zugleistungen bestellen.

Auf lange Sicht erhebliche Einsparungen

Mit der Zustimmung im Aufsichtsrat – Vorsitzender war bis vor Kurzem der Oberbürgermeister von Wernigerode und ist nunmehr der Landrat des Landkreises Harz – wurden die ersten Weichen für das Vorhaben gestellt. Im Herbst 2019 war Baubeginn des 15-Millionen-Euro-Projekts. Die technische Inbetriebnahme folgte im Sommer dieses Jahres, frisch ausgewaschen wurde die 66 Jahre alte „Brockenlok“ 99 7238 als ­Allererste in den Neubau aufs Hubgleis geschoben. „Wir erwarten von der Übernahme der schweren Instandhaltung in Eigenregie auf Dauer erhebliche Kosteneinsparungen, denn die Fremdvergabe wird immer teurer“, sagt Christoph Küster-Runge. Allerdings werde es eine Zeit dauern, bis man wirklich alle Schritte vor Ort ausführen könne. Zum Beispiel würde die Radsatzbearbeitung zunächst weiter an das Werk Meiningen vergeben.

Alternative Dampfmacher

Klimaschutz, Kohleausstieg und Dampflokbetrieb – wie kann das zusammenpassen? Die HSB sucht seit Längerem mit wissenschaftlicher Unterstützung der Hochschule Nordhausen nach klimafreundlichen Alternativen zum Steinkohleeinsatz. Dabei geht es nicht nur um eine saubere Antriebstechnik, sondern auch um den Erhalt des traditionellen und im Harz denkmalgeschützten Erlebnisses Dampflok mit seiner Geräuschkulisse und seinem CO2-freien Wasserdampfausstoß. Eine erste Machbarkeitsstudie zeigte, dass ein Technologiewechsel zum Wasserstoffantrieb das Erscheinungsbild und damit den historischen Charakter des Dampfbetriebes einschneidend verändern würde. Deshalb schied diese angedachte Lösung von vornherein aus. Bei weiteren Untersuchungen mit alternativen erneuerbaren Brennstoffen kristallisierte sich der Einsatz von Pyrolysekohle als klimaneutrale Alternative heraus. Das ist ein aus Biomasse, also pflanzlichen Abfällen, in thermischer Behandlung gewonnener Brennstoff. Er könnte in Form von Briketts in den Feuerbüchsen der Loks einen Heizwert vergleichbar der Steinkohle erzeugen. In einer Folgestudie erhofft die HSB sich weitere Erkenntnisse – noch wäre dieser Weg in die Zukunft der Dampfloks viel teurer als die Energie aus der schwarzen Kohle.

Attraktion für Touristen und Fans: Ab dem kommenden Jahr bietet die Werkstatt Einblicke in die Dampflokinstandhaltung. Hier entstehen 15 neue Arbeitsplätze.

Perspektivisch wird die neue Werkstatt 15 neue Arbeitsplätze schaffen, vorwiegend für Industriemechaniker. Auch für Auszubildende wird Platz sein, denn die HSB mit rund 270 Beschäftigten fördert schon seit 25 Jahren den kaufmännischen und den technischen Nachwuchs. Die Faszination Dampfeisenbahn lockt nach wie vor junge Menschen, weiß Christoph Küster-Runge: „Wir haben immer wieder Anfragen aus ganz Europa vor allem nach einer Lehrstelle möglichst in den Werkstätten.“ Die Azubis dürfen, wenn sie wollen, eine Zusatzausbildung zum Heizer machen. „So kommen sie schon während der Lehrjahre in den Fahrdienst und verdienen ein bisschen dazu.“ Viele bleiben nach der Lehre bei der HSB – entweder am erlernten Arbeitsplatz oder im Fahrdienst. Andere zieht es in die Ferne: „Gerade in Ostdeutschland gibt es noch einige Dampflokbetriebe. Da sind die Industriemechaniker von der HSB gern gesehen und heiß begehrt.“

Weitere Infos

zum Thema:

www.hsb-wr.de

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