Innovationen
15.12.2020

Mit der Kraft der zwei Herzen

Sie ist eine vollwertige Diesel- und E-Lok zugleich – eine Innovation, die den Güterverkehr auf der Schiene wettbewerbsfähiger macht. Seit einem Dreivierteljahr kommen Hybridloks der Baureihe 159 zum Einsatz. Als erstes Eisenbahnunternehmen in Deutschland erhielt die Havelländische Eisenbahn (HVLE) die „Eurodual“, so lautet die Herstellerbezeichnung, und hat bislang gute Erfahrungen gemacht.

„Wir brauchen die Dieselkraft
für die erste und die letzte Meile. Für uns sind jedoch die ökologischen und ökonomischen Vorteile des elektrischen Antriebs besonders wichtig.

Martin Wischner,
Vorstand der Havelländischen Eisenbahn


Mit einem leichten Ruck setzt sich der schwere Güterzug in Bewegung. Es dauert eine Weile, bis der 600 Meter lange Ganzzug aus blauen Spezialwaggons vorbeigerollt ist. Scheinbar mühelos zieht die Lokomotive ihren 4.200-Tonnen-Zug mit Schüttgut aus dem Hamburger Rangierbahnhof Hohe Schaar. Obwohl die Lok mit Dieselantrieb fährt, ist kein wummernder Motor zu hören, eher der Sound einer anfahrenden E-Lok. Es ist der Super Self Discharging Train (SSDT) der Havelländischen Eisenbahn (HVLE), ein Güterzug, der weitgehend automatisch entladen werden kann. Gezogen wird er von einer „Eurodual“. Auf solche Schwerlastverkehre ist das private Eisenbahnunternehmen spezialisiert.

Im Dieselbetrieb verlässt der SSDT der HVLE den Rangierbahnhof Hohe Schaar (Foto oben). Später geht es unter Fahrdraht mit Strom weiter.

Martin Wischner ist von der Hybridlok ganz angetan und damit in seinem Unternehmen nicht allein. „Selbst gestandene Lokführer hatten schon ein Freudentränchen in den Augen, als es auf die neuen Fahrzeuge ging“, sagt der Vorstand der HVLE. Zehn Lokomotiven hat die private Güterbahn beim Hersteller Stadler Rail bestellt. Die ersten drei sind seit etwa einem Dreivierteljahr deutschlandweit im Einsatz, die zweite Tranche aus sieben Maschinen wird in diesem Winter aus dem spanischen Werk in Valencia geliefert. „Kinderkrankheiten“, wie sie die Branche in der Vergangenheit häufiger bei Neufahrzeugen bemängelte, haben Martin Wischner und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Eurodual nicht festgestellt. An der Entwicklung des neuen Fahrzeugtyps war die HVLE beteiligt – und hat beispielsweise Vorschläge zur Gestaltung des Führerstands und zur Anordnung der Bedienelemente gemacht.

Von Diesel- auf E-Lok in 15 Sekunden

Silbermetallic und orange: Allein optisch sind die Kraftprotze schon eine Erscheinung. Mit 23 Metern über Puffer zählen die sechsachsigen Maschinen der Baureihe 159 zu den längsten einteiligen Lokomotiven auf europäischen Schienen. Aber es sind vor allem die inneren Werte, die sie zu einer wichtigen Innovation im Schienengüterverkehr machen. Denn die mit einer Anfahrzugkraft von 500 Kilonewton sehr leistungsstarken Lokomotiven bieten sowohl Elektro- als auch Dieselantrieb. Das macht die bis zu 120 Stundenkilometer schnellen Maschinen vielseitig einsetzbar – nicht nur auf der „letzten Meile“ in die Güterverladestellen, auf Industriegelände, zu Kraftwerken und in die Häfen. Im Dieselbetrieb stehen mit 3.800 PS reichlich Pferdestärken für den schweren Güterzugdienst auch auf längeren nichtelektrifizierten Strecken zur Verfügung. „Wir brauchen die Dieselkraft für die erste und die letzte Meile“, erläutert Martin Wischner, „für uns sind jedoch die ökologischen und ökonomischen Vorteile des elektrischen Antriebs besonders wichtig.“
Laut VDV werden mehr als 95 Prozent des Schienengüterverkehrs elektrisch erbracht. Das gesamte deutsche Streckennetz ist dagegen nur zu rund 60 Prozent elektrifiziert. Wenn es unter Fahrdraht weitergehen kann, ist bei der Eurodual das Umschalten auf eine andere Traktionsart innerhalb von 15 Sekunden erledigt. Dann erreicht die Lok eine Leistung von 8.400 PS. Ein eventueller Wechsel von Triebfahrzeugen, der zeit- und personalintensiv ist, entfällt. Weiterer Vorteil: Gibt es eine Oberleitungsstörung oder eine Streckensperrung, kann der Zug im Dieselbetrieb auch über nichtelektrifizierte Umleitungen weiterfahren.

Erste und letzte Meile: Die Eurodual mit dem SSDT bei der Verladung von Baustoffen

Auch für die Rübelandbahn konzipiert

In die Konzeption der Fahrzeuge eingeflossen ist beispielsweise der Einsatz auf der von der HVLE bedienten „Rübelandbahn“ im Harz zwischen Blankenburg und Königshütte. Die anspruchsvolle Strecke weist eine Neigung von 63 Promille auf und ist die steilste öffentliche Güterverkehrslinie Europas. Auf ihr müssen die bis zu 1.650 Tonnen schweren Kalkzüge bergab mit zwei Lokomotiven geführt werden. Abweichend vom deutschen Netz ist die Rübelandbahn mit 25 Kilovolt bei 50 Hertz elektrifiziert. Die Eurodual kann auch in diesem Stromsystem fahren.

Vom Hersteller Stadler Rail wurde die Lok für den europäischen Markt konzipiert. Neben der HVLE haben die Captrain-Tochter ITL, Heavy Haul Power International sowie European Loc Pool Fahrzeuge dieses Typs im Bestand. Mit Blick auf die sich ändernden Anforderungen im europaweiten Schienengüterverkehr sieht HVLE-Vorstand Martin Wischner gute Marktchancen für die Eurodual: „Durch die zunehmende Länge und die höheren Gewichte der Züge wird die Nachfrage nach sechsachsigen Lokomotiven steigen.“ Somit könnte die Eurodual dazu beitragen, den ohnehin schon hohen Umweltvorteil des Schienengüterverkehrs auszubauen.

Die Havelländische Eisenbahn (HVLE)

Die Havelländische Eisenbahn (HVLE) zählt zu den zehn größten Güterbahnen auf dem deutschen Markt. Das 1892 gegründete Unternehmen ist in allen Bereichen des Schienengüterverkehrs unterwegs. Über spezielles Fachwissen und Erfahrung verfügt die HVLE im Schwerlastverkehr mit Schüttgut beziehungsweise Bau­stoffen sowie bei spezialisierten Transportarten und mit Gefahrgut. Aktuell besteht die HVLE-Lokomotivflotte aus 50 Triebfahrzeugen und mehr als 850 Güter­wagen. Über ihre Tochtergesellschaft Rail & Logistik Center Wustermark betreibt die HVLE mit dem Rangierbahnhof Wustermark den größten privat geführten öffentlichen Bahnhof in Deutschland.

www.hvle.de

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