Infrastruktur
14.10.2020

Mit der Kurbel aus dem Chaos

Ein maroder, vom Einsturz bedrohter Brückenzug hat Ludwigshafen im November 2019 zu einer geteilten Stadt gemacht. Zugleich war das eng mit dem Nachbarn Mannheim auf der anderen Rhein-Seite verwobene Nahverkehrssystem der Rhein-Neckar-Verkehr (rnv) blockiert. Praktisch über Nacht mussten neue Linienwege und Fahrpläne für Bus und Bahn konstruiert werden. So blieb das befürchtete Verkehrschaos aus. Seit Mitte September ist die Zeit der Provisorien weitgehend vorbei.


Der Schreck kam in Raten: Für Autofahrer war Ludwigshafens Hochstraße Süd, der zur Autobahn führende westliche Anschluss der Konrad-Adenauer-Brücke über den Rhein, bereits seit August 2019 gesperrt wegen Sanierungsbedarf. Doch die Begutachtungen der Fachleute führten zum vernichtenden Ergebnis: Die aufgeständerte Schnellstraße sei derart marode, dass nur noch ein Abbruch möglich sei. Und das möglichst schnell, bevor sie unkontrolliert zusammenstürzt. Gefahr im Verzug also nicht nur auf der Straße selbst, sondern auch unter ihr - auf Parkplätzen, Gehwegen, Fahrbahnen und Straßenbahngleisen. Am 22. November 2019, einem Freitagnachmittag, entschied sich die Stadt Ludwigshafen deshalb zur Hauptverkehrszeit für die Notbremse: Die Hochstraße, aber auch die Zu- und Abfahrten zur Rheinbrücke, weiterhin alle Durchfahrten und Durchgänge wurden konsequent abgeriegelt. „Kein Fußgänger, kein Rad- oder Rollerfahrer, kein Auto, kein Bus und auch keine Bahn können mit einem Mal mehr die üblichen Wege nutzen oder befahren. Ludwigshafen wird durch die schier unüberwindbare Barriere Hochstraße Süd quasi zur geteilten Stadt”, bilanzierte Florian Benz aus der rnv-Presse­stelle sichtlich erschüttert im rnv-Blog „hiekumme hämkumme“.

Notnetzpläne und weitere Fahrgastinformationen wurden rasch gedruckt und an den Haltestellen ausgehängt.

In den ersten Tagen nach der Sperrung sind einige Kunden abgesprungen, doch viele haben schnell verstanden, dass es mit dem Auto auch nicht besser ging.

Christian Volz,
kaufmänn. Geschäftsführer der rnv

Für das Verkehrsunternehmen bedeutete das: Der zentrale Ludwigshafener Umsteigepunkt Berliner Platz war praktisch von einer Minute zur anderen nicht mehr zu bedienen, weder mit Bus noch Bahn. Die elektronischen Anzeigen dort vermeldeten alsbald „Haltestelle aufgehoben! Straßenbahnen werden bis auf Weiteres umgeleitet.” Unterdessen tagten in der Mannheimer rnv-Zentrale die ersten Krisenstäbe. Martin in der Beek, technischer Geschäftsführer, beschreibt die Situation: „Die Sperrung der Durchfahrten unter der Hochstraße Süd in Ludwigshafen war und ist für die rnv eine absolute Ausnahmesituation und eine große Herausforderung, da zentrale Bereiche unserer wichtigen Schieneninfrastruktur aktuell nicht nutzbar sind.” Ein Blick auf den Liniennetzplan zeigt, wie die Städte Ludwigshafen und Mannheim über die beiden Rheinbrücken – „Konrad Adenauer“ im Süden, „Kurt Schumacher“ im Norden – vielseitig und eng im ÖPNV in komplexen Linienverknüpfungen miteinander verbunden sind.

Straßenbahnen „evakuiert“

Mit einem Mal war dieses Netz jäh amputiert: Die südliche Variante über den Rhein fiel vollständig aus. Und mit ihm die vielen Verbindungen der kurzen Wege zwischen den beiden Städten. Hinzu kam: Der Betriebshof mit seinen Werkstatt- und Abstellkapazitäten im südlichen Ludwigshafener Stadtteil Rheingönheim war aufgrund einer weiteren, geplanten Baumaßnahme nun gänzlich vom Netz abgeschnitten, da die verbliebenen Zufahrtgleise nur durch die Absperrungen der Hochstraße Süd führten. Ein Kompromiss linderte diese Not. In einer spektakulären „Evakuierung“ wurde ein Teil der Fahrzeuge einzeln und sehr behutsam unter dem gefährlichen Brücken-Beton hindurch gefahren – begleitet von den kritischen Blicken des Gutachters. Improvisation war nötig, um die Rheingönheimer Fahrzeuge in Mannheim abzustellen: Dafür wurden teilweise Werkstattgleise umfunktioniert. Und die Fahrgäste von und nach Rheingönheim waren auf den Bus im Schienenersatz-Verkehr angewiesen.

In einer Nachtsitzung und nach reichlich Feinjustierung am darauffolgenden Wochenende erstellten die Experten der rnv zunächst einen Notnetzplan, der bereits am Samstag, also am Tag nach der Sperrung, veröffentlicht wurde – über die Medien, die eigene Webseite, die Displays und über rasch gedruckte Info-Plakate für die Haltestellen. Hinter den Kulissen wurde organisiert, um die veränderten Betriebsabläufe nach Fahrplan zu steuern. Es dauerte ein paar Tage, bis sich das neue System eingespielt hatte, dann aber lief es so, dass Kunden wie Politik und Aufgabenträger den Notfall anerkennend akzeptierten. „In den ersten Tagen nach der Sperrung sind einige Kunden abgesprungen, doch viele haben schnell verstanden, dass es mit dem Auto auch nicht besser ging”, beobachtete Christian Volz, kaufmännischer rnv-Geschäftsführer. Die Staus im Individualverkehr hätten nicht selten über die Rheinbrücken von Mannheim nach Ludwigshafen und umgekehrt gereicht. Doch als das provisorische Liniennetz nach ein paar Anlauftagen gut funktionierte, habe die rnv auch über den Rhein hinweg nach Mannheim wieder ein überzeugendes Angebot gefahren, das vor allem bei den Stammkunden, den Pendlern, schnell die vorherige Akzeptanz fand: „Bus und Bahn sind beiderseits des Rheins wieder Rückgrat der Mobilität.”

Der Abbruch der Hochstraße Süd (Foto, o.) ist mittlerweile weiter vorangekommen.
An der Kurbel: Jüngere Kolleginnen und Kollegen mussten von den Älteren erst in die Bedienung der historischen Fahrzeuge eingewiesen werden (Foto u.).

Vor Corona noch Fahrgaststeigerungen

„Mit einem gemeinsamen Kraftakt des ganzen Betriebs gelang es, aus den verbliebenen Möglichkeiten das machbare Optimum für die Kunden herauszuholen”, freut sich Geschäftsführer in der Beek. Das sieht auch Ludwigshafens Oberbürgermeisterin Jutta Steinruck so: Alle Akteure seien von Beginn an mit den Themen und den Herausforderungen vertraut gewesen und hätten so auch unter schwierigen Rahmenbedingungen gute Lösungen erarbeitet. „Mein Dank gilt allen Beteiligten, die dazu beigetragen haben, dass das befürchtete Verkehrschaos ausblieb. Und mancher hat vielleicht dadurch auch die Chance genutzt, vom Auto aufs Rad oder in die Bahn umzusteigen.” Diesen Schluss lassen auch die Zählungen des rnv zu: Anfang des Jahres vor den coronabedingten Einschränkungen waren im ÖPNV der beiden Städte deutliche Fahrgaststeigerungen um über 20 Prozent zu verzeichnen.
Mittlerweile ist der Abbruch der Hochstraße Süd soweit vorangekommen, dass erste Wege unten durch wieder frei sind. Seit dem 14. September kehrte auch der rnv zur Normalität zurück. Mit der Wiederinbetriebnahme des Bahnverkehrs über die Adenauer-Brücke und der Neueröffnung der Haltestelle Berliner Platz „steht” wieder das vorherige Liniennetz für Bus und Bahn über den Rhein hinweg. Als letzte Baumaßnahmen waren neue Oberleitungsmasten errichtet worden, weil die Fahrleitung zuvor teilweise direkt an der maroden Brücke angebracht war. Eingehend geprüft wurde auch die Gleislage, da die Schienenstränge an manchen Stellen unter tonnenschwerem Abbruchschutt gelegen hatten.

Mit einem gemeinsamen Kraftakt des ganzen Betriebs gelang es, aus den verbliebenen Möglichkeiten das machbare Optimum für die Kunden herauszuholen.

Martin in der Beek,
techn. Geschäftsführer der rnv

Die Stadt Ludwigshafen investiert in eine neue Hochstraße Süd. Damit verbunden sieht OB Steinruck „die Diskussion, wie wir künftig in unserer Stadt und Region leben und mobil sein wollen. Dabei spielte der ÖPNV von Beginn an eine große Rolle. Er wurde mitgedacht, integriert und gefördert. Im November 2019 stimmte der Stadtrat einstimmig dem Ausbau des ÖPNV zu.” Das wiederum freut die Geschäftsführer der rnv: „Erfreulich ist die positive öffentliche Wahrnehmung durch unsere schnelle Reaktion in der Krise. Es ist in der heutigen Zeit ja nicht selbstverständlich, dass dies wertgeschätzt wird.” Letztlich sei die rnv in der schwierigen Phase als sehr verlässliches Verkehrsunternehmen wahrgenommen worden. „Das wird auch in ,normalen’ Zeiten nachwirken und helfen, wenn es um die Weiterentwicklung des ÖPNV in der Rhein-Neckar-Region geht.“

Dann werden drei Oldtimer nicht mehr dabei sein, die in der Krise wertvolle Transportdienste beiderseits des Rheins leisten konnten. Zum Jahresbeginn waren die historischen Fahrzeuge aus den 1960er-Jahren reaktiviert worden, um zusätzliche Kapazitäten zu schaffen. Sie werden noch mit der guten alten Kurbel gefahren – eine „Antriebstechnik”, die jüngere Tram-Piloten erst einmal von den älteren Kollegen lernen mussten.

Drei Oldtimer leisteten übergangsweise wertvolle Dienste.
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