Innovationen
21.11.2022

Weltpremiere mit Wasserstoffzügen

Der Schienennahverkehr in ländlichen Regionen wird allmählich klimaneutral. Lärmintensive und CO2 ausstoßende Dieseltriebwagen sollen künftig vermehrt durch saubere Hightech-Züge mit Batterieelektrik oder BrennstoffzellenAntrieb ersetzt werden. Mit Wasserstoffzügen made in Germany gelang den Eisenbahnen und Verkehrsbetrieben Elbe-Weser (evb) im nördlichen Niedersachsen jetzt sogar eine Weltpremiere.


Kein Geringerer als der Utopist, Visionär und Schriftsteller Jules Verne ahnte es schon vor 150 Jahren. „Das Wasser ist die Kohle der Zukunft“, legt er seinem Protagonisten im Science-Fiction-Roman „Die geheimnisvolle Insel“ in den Mund. Und lässt ihn erklären, dass Wasser, durch Elektrizität in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt, „zur unerschöpflichen und bezüglich ihrer Intensität ganz ungeahnten Quelle der Wärme und des Lichts“ werden könne. Fahrplanmäßig nutzen diese Kraft seit Ende August die Eisenbahnen und Verkehrsbetriebe Elbe-Weser (evb) als erstes Schienenverkehrsunternehmen weltweit. Im Auftrag der Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen (LNVG) ist die evb mit den Wasserstoffzügen im Dreieck zwischen Elbe, Weser und Nordsee unterwegs. Nach und nach nimmt sie insgesamt 14 Triebwagen mit Brennstoffzellen-Antrieb in den Dienst. Zum alten Eisen gehören die 15 Dieseltriebzüge, die die evb dann nicht mehr benötigt, aber nicht. Die LNVG will sie in anderen ländlichen Netzen in Niedersachsen einsetzen.

Wir wollen, dass dieser Zug langweilig wird. Langweilig, weil er immer nur fährt.

Christoph Grimm, Geschäftsführer der evb Elbe-Weser GmbH

Der „Coradia iLint“ – die Abkürzung steht für den „intelligenten leichten innovativen Nahverkehrstriebwagen“ – ist selbst Niedersachse, entwickelt und gebaut in der traditionsreichen Lokomotiv- und Waggonfabrik in Salzgitter. Die ist seit einigen Jahren die größte Produktionsstätte des internationalen Bahntechnikkonzerns Alstom.

Vorserienfahrzeuge vier Jahre getestet

Die Weltpremiere kommt eher unauffällig daher. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Triebwagen nicht von den dieselnden Vorgängern, denn die alternative Mobilität versteckt sich im Lint-Serienfahrzeug und speziell auf seinem Dach. Zwei Vorserienfahrzeuge hatten auf der 124 Kilometer langen Strecke von Cuxhaven über Bremerhaven und Bremervörde nach Buxtehude schon seit 2018 ihre Bewährungsprobe bestanden, bevor sie zu europaweiten Demonstrationen aufbrachen und so auf sechsstellige Kilometerleistungen kamen.

Die saubere Antriebsenergie ist unter hohem Druck komprimierter Wasserstoff (H2), der ähnlich wie Dieselkraftstoff an einer mit Millionenaufwand gebauten Tankstelle am Betriebssitz der evb in Bremervörde in Tanks auf den Wagendächern gepumpt wird. Das dauert dort zwischen 20 und 30 Minuten. Die Brennstoffzellen machen daraus Strom in einer elektrochemischen Reaktion durch die Verbindung des Wasserstoffs mit Sauerstoff aus der Luft. Die elektrische Energie wird in den Bordakkus des Zugs gespeichert und dann als Fahrstrom genutzt. Hinzu kommt Strom, den das Fahrzeug unterwegs selbst produziert: Beim Bremsen gewonnene Energie schickt der Elektromotor in die Batterien – „Rekuperation“ wie beim ICE oder anderen elektrischen Triebfahrzeugen. Mit einem starken Antrieb beim Start und einem Spitzentempo von 140 Stundenkilometern bringen die Züge es auf Leistungen ähnlich wie Elektrotriebwagen unter der Oberleitung. Dabei ist ihre Technologie absolut sauber. Es entstehen lediglich Wasserdampf und Kondenswasser, ohne schädliche Zutaten.

Anlage soll grünen Wasserstoff herstellen

Mit einer Tankfüllung bringen es die iLint regulär auf Umläufe bis zu tausend Kilometer pro Tag, mehr als genug für den Fahrplan zwischen Elbe und Weser. Mitte September lieh sich Alstom einen der Züge noch einmal aus mit dem Ziel, den Tank mal richtig leer zu fahren und damit Reichweite zu dokumentieren. Nach 20 Stunden von Bremervörde aus quer durch Deutschland bis an die österreichische Grenze und wieder nach München waren 1.175 Kilometer zurückgelegt – mit einmal geladenen 250 Kilogramm Wasserstoff, die immer noch nicht ganz aufgebraucht waren. Wobei ein Kilogramm Wasserstoff je nach Streckenprofil und Stopps unterwegs etwa vier bis fünf Liter Diesel ersetzt. Die emissionsfreie Fahrt allein ist noch kein perfekter Klimaschutz. Denn bislang ist der verwendete Treibstoff kein grünes Produkt. Es ist „grauer“ Wasserstoff – ein Abfallprodukt aus der Industrie, das der Gasehersteller Linde als Partner – er baute und betreut die Tankstelle – im evb-Projekt täglich per Tankwagen aus der Chemieindustrie in Stade vor den Toren von Hamburg anliefert. Das soll sich bald ändern. Auf dem Betriebsgelände der Bahn in Bremervörde ist der Bau eines Elektrolyseurs geplant. Eine Anlage unmittelbar neben der Tankstelle, die – wie von Jules Verne vorausgesagt – mithilfe von Strom Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff aufspaltet. Und dieser Strom soll von norddeutschen Windrädern eingespeist werden. Das macht den Wasserstoff dann „grün“.

Das niedersächsische Projekt hat mehrere Väter und Finanziers. Das wurde „mit großem Bahnhof“ in Bremervörde zum Start das regulären Wasserstoffbetriebs deutlich. „Fortschritt made in Niedersachsen“ machte Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) aus und klopfte Niedersachsen in der Schlussphase seines Landtagswahlkampfes kräftig auf die Schultern: „Als Land der erneuerbaren Energien setzen wir damit einen Meilenstein auf dem Weg zur Klimaneutralität im Verkehrssektor.“ Und der damalige Koalitionspartner Bernd Althusmann (CDU), der spätere Wahlverlierer, bescheinigte dem „Innovationsland Niedersachsen“: „Wir leisten hier echte Pionierarbeit.“ 85 Millionen Euro ließ sich das Land das Projekt kosten, unterstützt durch eine Bundesbeteiligung von 8,4 Millionen Euro. Finanziert wurde damit die Flotte über die Landesnahverkehrsgesellschaft LNVG, die im Land noch 126 Dieseltriebzüge fahren lässt. Geschäftsführerin Carmen Schwabl kündigte an, dass für Ersatzbeschaffungen auf den Strecken ohne Fahrdraht künftig nur noch emissionsfreie Wasserstoff- oder Batteriezüge geordert würden.

Nächste H2-Flotte geht an den Start

Nach der Weltpremiere hinter den Nordseedeichen kündigt sich im Nordwesten der Mainmetropole Frankfurt schon der nächste Superlativ auf deutschen Schienen an. Die „größte Wasserstoffzugflotte der Welt“ geht dort ab dem kommenden Fahrplanwechsel an den Start. Fahren werden die H2-betriebenen Coradia-iLint-Züge auf den vier Regionalbahnlinien des weitestgehend nicht elektrifizierten Taunusnetzes. Insgesamt 27 Einheiten hat der Rhein-Main-Verkehrsverbund bestellt, das Eisenbahnbundesamt hat die Zulassung erteilt. Betreiber wird nach europaweiter Ausschreibung die Deutsche-Bahn-Tochter „Regionalverkehre Start Deutschland“ sein. Die Deutsche Bahn zeichnet im Auftrag von Alstom auch für die Wartung der Züge verantwortlich – dafür baute sie ihr bestehendes Betriebswerk in Frankfurt-Griesheim um, wo die iLint-Züge künftig Seite an Seite mit anderen Fahrzeugen instandgehalten werden. Betankt werden die Triebwagen im Industriepark Höchst mit Wasserstoff aus der Chemie-Produktion. Das sei aber „eine Übergangslösung“, noch nicht mit grünem Wasserstoff, heißt es beim Lieferanten, dem Industriepark-Betreiber Infraserv Höchst.

Zum nächsten Fahrplanwechsel werden mit Wasserstoff angetriebene Züge vom Typ Coradia iLint auf vier Regionalbahnlinien des weitgehend nicht elektrifizierten Taunusnetzes in Betrieb gehen. Das erste Fahrzeug wurde Mitte November mit Partnerinnen und Partnern aus Politik und Unternehmen in Frankfurt vorgestellt.

Auch Siemens setzt auf Wasserstoffantriebe. Aus dem Elektrotriebwagen „Mireo“ für den Betrieb unter der Oberleitung hat der Bahntechnik-Konzern die Version „Mireo Plus H“, einen Wasserstoffzug, entwickelt. Die Deutsche Bahn will die neue Technologie zwischen Tübingen, Horb und Pforzheim testen – ab 2024 auch mit Fahrgästen. Der neue Zug soll in puncto Antriebsleistung und Spitzentempo 160 den klassischen E-Fahrzeugen entsprechen. In der Erprobung gibt es gleich grünen Wasserstoff: Im Werk Tübingen will die DB für die Elektrolyse Ökostrom aus der Oberleitung zapfen. Über eine mobile Anlage soll eine Schnellbetankung der Züge in nur 15 Minuten erreicht werden. Zur Präsentation des Projekts gab es einen weiteren „großen Bahnhof“: Die Konzernchefs Roland Busch und Dr. Richard Lutz begaben sich – begleitet von Medienschaffenden – auf eine „Premierenfahrt“ auf dem Rundkurs im Siemens-Prüfcenter in Wegberg-Wildenrath am Niederrhein.

Weiter oben im Norden hat evb-Geschäftsführer Christoph Grimm derweil schon den Alltag im Blick. Nach der Euphorie der Landespolitiker erklärte er nüchtern: „Wir wollen, dass dieser Zug langweilig wird. Langweilig, weil er immer nur fährt.“

Klimaneutral mit Batterie
oder Brennstoffzelle

Innerhalb der nächsten fünf Jahre rechnet der VDV damit, dass 300 Dieseltriebwagen im Regionalverkehr durch emissionsfreie Fahrzeuggenerationen abgelöst und somit 50 Millionen Zugkilometer pro Jahr klimaneutral gefahren werden. Einer Umfrage des Branchenverbandes zufolge werden dafür vorwiegend batterieelektrische Fahrzeuge zum Einsatz kommen, die auf elektrifizierten Strecken Strom speichern für nicht elektrifizierte Abschnitte. Aber auch Wasserstoff wird als Energiequelle wichtiger: Mehr als 70 Züge mit Brennstoffzellen-Antrieb werden der Premiere bei der evb folgen. Darüber hinaus sind weitere Pilot- und Testbetriebe geplant. „Die Eisenbahnverkehrsunternehmen und Aufgabenträger in Deutschland wollen diesen Kurs weiterverfolgen und signalisieren den Entscheidungsträgern, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist: Nicht nur aus Gründen der Energieeffizienz, sondern auch, um manche nicht elektrifizierte Lücke im Streckennetz klimafreundlich zu schließen“, sagt VDV-Vizepräsident Veit Salzmann.

Das könnte Sie ebenfalls interessieren