Ab in den
9-Euro-Sommer

Am Pfingstwochenende erlebte der ÖPNV den erwarteten Fahrgast-Ansturm. Es war die Feuertaufe des 9-Euro-Tickets: Nahezu überall und ­unablässig drängten die Menschen in Städten, auf dem Land und bevorzugt in den ­Urlaubsregionen in Busse und Bahnen. Während die Verkehrsunternehmen die letzten Betriebsreserven mobilisierten, stellte sich in der Branche und auch in der Politik rasch die Frage, ob und wie man im Sinne des Klimaschutzes dauerhaft vom riesigen Interesse am Nahverkehr profitieren kann.

Noch nie wurde in unserer Branche ein Tarifprodukt in so kurzer Zeit entwickelt, in enger Zusammenarbeit der Unternehmen und Verkehrsverbünde.

Ingo Wortmann,
VDV-Präsident


Wer von Berlin aus zum Kurztrip mit der Bahn an die Ostsee fuhr, brauchte Geduld und Gelassenheit. Was nicht überraschen konnte: Die Züge waren proppenvoll, und sie wären es nach Einschätzung der Verkehrsbranche auch ohne das 9-Euro-Ticket gewesen – wie jedes Jahr zu Pfingsten. Nicht viel anders sah es auf dem Weg an die Nordsee oder Richtung Alpen aus. Bundesweit waren nahezu überall die großen Knotenbahnhöfe buchstäblich randvoll mit Reisenden. Deutlich zeigten sich die bekannten Schwachpunkte und fehlenden Reserven des Schienennetzes, dessen Kapazitäten vielerorts den Ansturm nur mühsam verkraften konnten. Mit negativen Auswirkungen für den Personenverkehr und auch die Güterbahnen. Wer aber statt der Strände und Berge die großen Städte oder Ausflugsziele zum Ziel hatte, traf zwar auf Marktplätzen, in Ausflugslokalen oder an Aussichtspunkten auf reichlich weitere Besucherinnen und Besucher mit dem Ticket in der Tasche. Doch übereinstimmend meldeten die Verkehrsunternehmen, dass die erhöhten Fahrgastzahlen mit dem regulären Bus- und Bahnangebot gut gemeistert wurden.

Schon etliche Tage vor dem 1. Juni, dem ersten Geltungstag des Angebots, wurde das Ticket überall im Land rege gekauft. Bis zum 31. Mai waren bundesweit bereits sieben Millionen Fahrausweise erworben worden, Mitte Juni schon 16 Millionen. Hinzu kommen die mindestens zehn Millionen Tickets der Abonnentinnen und Abonnenten. VDV-Präsident Ingo Wortmann, Chef der Münchner MVG, erklärte in einer Pressekonferenz zum Auftakt der Aktion: „Wir haben eine sehr intensive Vorbereitungsphase hinter uns. Noch nie wurde in unserer Branche ein Tarifprodukt in so kurzer Zeit entwickelt, in enger Zusammenarbeit der Unternehmen und Verkehrsverbünde.“ Für 9 Euro können alle bundesweit uneingeschränkt einen Monat lang den Nahverkehr von Bus und Bahn (2. Klasse) benutzen - zunächst im Juni und dann auch im Juli und August, ebenfalls für jeweils 9 Euro. Abo-Kundinnen und -Kunden, die mehr für ihr Monatsticket bezahlen, bekommen die vom Konto abgebuchten Mehrkosten für das Sommer-Vierteljahr erstattet.

Celina Dominiak ist angehende Straßenbahnfahrerin und zeigt das 9-Euro-Ticket der Halleschen Verkehrs-AG.

Das Angebot an Reserven ist begrenzt

Parallel seien überall die betrieblichen Vorbereitungen auf die ungewohnt große Nachfrage auf hohen Touren gelaufen, berichtete Ingo Wortmann weiter, „damit wir möglichst wenig böse Überraschungen erleben. Wir werden das Bestmögliche auf stark nachgefragten Strecken liefern“. Doch das Angebot an Reserven ist begrenzt: „Wir können aus der Luft heraus keine neuen Fahrzeuge und keine zusätzlichen Fahrer holen.“ Nicht ohne Sorge sieht man in der Verkehrsbranche, dass zusätzlich eingesetzte Züge für die 9-Euro-Kundschaft die ­Kapazität des durch die Vielzahl der Baustellen ohnehin schon engen Schienennetzes weiter einschränken und dass das insbesondere den Güterverkehr beeinträchtigt. VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff nannte das 9-Euro-Ticket zunächst einmal „ein sozialpolitisches Projekt“, das Politik und Branche zu einer verkehrspolitischen Aufgabe mit dem Ziel einer dauerhaften Attraktivitätssteigerung des ÖPNV zu machen hätten. Er erinnerte daran, dass das Ticket vorrangig als finanzielle Entlastung der Bürgerinnen und Bürger erdacht wurde. Wer für 9 Euro quer durch Deutschland reisen wolle, müsse angesichts der hohen Nachfrage mit „Gelassenheit“ in Busse und Bahnen steigen. Und: „Bei großen Konzerten steht man auch dicht gedrängt beieinander.“ Immerhin sei es der Branche gelungen, für die Aktion eine digitale Plattform zu entwickeln; das sei „ein gutes Signal“ für künftige Angebote.

Die Bremer Senatorin Maike Schaefer, derzeit Vorsitzende der Konferenz der Verkehrsminister aus den 16 Bundesländern, geht mit optimistischer Erwartungshaltung in den 9-Euro-Sommer: Für den ÖPNV „Neukunden gewinnen und erhalten“. Dieses Ziel sei „ein Baustein für die Verkehrswende“. Und klar machte die Politikerin: Ein attraktiver ÖPNV, der auf Dauer und nicht nur zum derzeitigen Niedrigpreis zum Umsteigen vom Auto auf Busse und Bahnen führe, sei nur mit weiteren hohen Investitionen in Infrastruktur und Fahrzeugparks zu erreichen. Hier sehen die Länder den Bund in der Pflicht: Er müsse die „Regionalisierungsmittel“ deutlich aufstocken. Bislang wird aus diesem Topf mit über acht Milliarden Euro überwiegend der Nahverkehr auf Schienen finanziert – über die regionalen „Aufgabenträger“ in den Ländern, die dann für den Bund über Ausschreibungen Bahnleistungen vergeben. Allein für die beiden Jahre 2022 und 2023 addieren sich mit Blick auf die gestiegenen Belastungen beziehungsweise Anforderungen die Forderungen der Länderverkehrsminister nach zusätzlichen Mitteln auf mehr als 3,7 Milliarden Euro. Allerdings sollen die Regionalisierungsmittel laut Angaben aus dem Bundesverkehrsministerium ohnehin in den kommenden Jahren bis 2030 um einen zweistelligen Milliardenbetrag steigen.

Die Debatte um den ÖPNV hat eine Dimension, wie wir sie noch nie hatten.

Oliver Wolff,
VDV-Hauptgeschäftsführer

Attraktiverer ÖPNV benötigt mehr Geld

Attraktivitätssteigerung des öffentlichen Nahverkehrs im Sinne der Mobilitätswende braucht mehr Geld, bestätigt der VDV-Präsident. Im Durchschnitt hätten die Verkehrsbetriebe nach der Coronapandemie erst 70 bis 80 Prozent ihrer Fahrgäste aus den Jahren zuvor zurückgewonnen. Um da weiter voranzukommen, müssten in den Ballungsräumen die Fahrplantakte verdichtet werden, und im ländlichen Raum „ist viel zu tun, um überhaupt ein Angebot zu schaffen“. Das könnten die Kommunen und Kreise als Eigentümer der vielen kommunalen Betriebe nicht finanzieren. Bundesverkehrsminister Volker Wissing gab sich gleichwohl eher zugeknöpft. Den Ausbau des ÖPNV „wollen alle“. Der Bund leiste bereits jährlich Zahlungen über zehn Milliarden Euro für den Nahverkehr, vom Ausgleich der Corona-Mindereinnahmen nach dem Wegbleiben der Fahrgäste bis zur Subventionierung von E-Buskäufen. Der Minister verwies auf die im Frühjahr berufene Bund-Länder-Arbeitsgruppe zum Nahverkehr, deren Erkenntnisse er abwarten wolle. Insbesondere forderte er die Länder auf, mehr Transparenz zu gewähren, wo die Regionalisierungsmittel verwendet werden und was die Länder dazu beitragen. Die Frage nach noch mehr Geld vom Bund „steht am Ende, nicht am Anfang“. Hier wurde deutlich, wie unterschiedlich die Sichtweisen zwischen dem Bundesminister und den Ländern sind.

Volle Bahnsteige, Regionalzüge und Hallen gab es am Pfingstwochenende – wie hier im Münchner Hauptbahnhof.

Nach dem Ende des Sonderangebots am 31. August werde es keine zusätzlichen Mittel aus dem Bundesetat geben, erklärte Volker Wissing weiter und erteilte damit Vorstellungen von weiterhin vergünstigten Tickets eine Absage. Die Verkehrsunternehmen würden ohnehin von steigenden Fahrgastzahlen profitieren, ebenso wie von den Entlastungen der Bundesregierung für die hohen Energiekosten. Demgegenüber konnte VDV-Präsident Ingo Wortmann nicht ausschließen, dass der steigende Aufwand sogar Tariferhöhungen zur Folge hat. Es müsse gelingen, für den ÖPNV neue Finanzierungsmöglichkeiten zu finden, zum Beispiel über Parkraumbewirtschaftung für den Individualverkehr oder Drittnutzer-Finanzierungen. Nur so könne verhindert werden, dass die Schere zwischen steigenden Kosten und Fahrpreisen weiter aufgehe. Oliver Wolff brachte es auf den Punkt: „Der Maßstab ist weniger der Wunsch des Bürgers, es ist der Klimaschutz. Da müssen wir den klugen Weg finden, wie wir das weiterentwickeln. Die Debatte um den ÖPNV hat aber eine Dimension, wie wir sie noch nie hatten.“

Mehr Infos zum

9-Euro-Ticket:

www.besserweiter.de

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