Innovationen
24.05.2023

Digitale Helfer im Tram-Cockpit

Darmstadt trägt stolz den Beinamen „Wissenschaftsstadt und Digitalstadt“. Von der Nähe zur Technischen Universität profitiert auch das heimische Verkehrsunternehmen HEAG mobilo. In einem gemeinsamen Forschungsprojekt sind digitale Assistenzsysteme für die Straßenbahn entwickelt worden. Und es folgen nächste Schritte: Als „InnoTram“ rollt die Bahn für weitere Vorhaben auch künftig durch die Stadt – regulär im fahrplanmäßigen Betrieb.


Wir fragen uns, wie wir für die wachsenden Aufgaben unser Fahrpersonal noch besser unterstützen können.

Ann-Kristina Natus,
Geschäftsführerin der HEAG mobilo

Ein mächtiger Quader, dekorativ in eine orangefarbene Plane verpackt, liegt mitten auf dem Gleis. Aus einiger Entfernung nähert sich zügig die Straßenbahn. Dann, wenige Meter vor dem Hindernis, stoppt sie abrupt mit einer Gefahrenbremsung. Eine Situation, die tagtäglich weltweit in den Tram-Netzen im Verkehrsgeschehen auf der Straße Realität sein kann. Der kleine Unterschied: Hier, bei dem Test auf dem Betriebshof Frankenstein der HEAG mobilo im Darmstädter Stadtteil Eberstadt, hat kein Fahrzeugführer die Bremse ausgelöst. Hier hat die Bahn ganz von allein das Hindernis auf ihrem Fahrweg erkannt und mit dem Stopp richtig und sicher reagiert.

Funktioniert hat das dank eines digital mit Hilfe von Sensoren und Kameraaugen arbeitenden Kollisionswarnsystems. Das ist eine der erfolgreichen Entwicklungen, mit der die HEAG mobilo die Digitalisierung speziell in der Leit- und Sicherungstechnik des Straßenbahnbetriebes nutzen will. Gemeinsam mit der TU Darmstadt wurde dafür das Projekt „MAAS“ gestartet. Hinter der Abkürzung verbirgt sich ein anspruchsvolles Vorhaben: die „Machbarkeitsstudie zur Automatisierung und zu Assistenzsystemen von Straßenbahnen“. Eine Darmstädter Tram im dort einzigartigen blauen Design und der aufklärenden Aufschrift „Wissenschaft an Bord“ gehört auf den Schienenstrecken der Wissenschaftsstadt seit 2019 zum öffentlichen Erscheinungsbild. Das Projekt hat jetzt einen vorläufigen Abschluss erreicht.

Forschungsbahn: Als „InnoTram“ geht die Darmstädter Wissenschaftsbahn künftig in fahrplanmäßigen Einsätzen auf die Strecken der HEAG mobilo – als Sammlerin von Daten für die Entwicklung weiterer Assistenzsysteme. (Bitte klicken Sie zur Vergrößerung der Grafik auf das Bild)

„Darmstadt wächst und damit auch die Anzahl der Fahrgäste – unser Fahrplanangebot wird in den kommenden Jahren um 30 Prozent aufgestockt. Deshalb fragen wir uns, wie wir für die wachsenden Aufgaben unser Fahrpersonal noch besser unterstützen können“, sagt HEAG mobilo-Geschäftsführerin Ann-Kristina Natus. Der Bremsassistent, der so eindrucksvoll auf dem Betriebshof seine Wirkung zeigte, hat den Sprung aus der wissenschaftlichen Entwicklung und Erprobung in die Realität des Tram-Alltags bereits geschafft. Vom Herbst an sollen die beim Schweizer Hersteller Stadler bestellten neuen Niederflurbahnen vom Typ ST 15 nach und nach in Dienst gestellt werden. Sie werden bereits mit einem digitalen Assistenzsystem ausgestattet. „Aus der Sicht der TU Darmstadt ist das MAAS-Projekt ein lebensnahes Beispiel für die Zusammenarbeit von Wissenschaft und regionalen Akteuren“, freut sich Prof. Franziska Lang, Vizepräsidentin für Akademische Karrieren an der Technischen Universität Darmstadt.

Der Bremsassistent hat mehr als zwei Augen. Ganz oben in der Frontpartie der Bahn ist mittig ein laserbasierter Lidar-Sensor installiert. Er hat die Strecke vor der Bahn stets präzise im Blick, auch nachts und selbst bei starkem Schneefall. Unterstützt wird diese elektronische Sichtweise durch die seitlich in Höhe des Lidar-Sensors integrierten Fischaugen-Kameras, die ihrerseits einen umfassenden Rundumblick auf das Verkehrsgeschehen vor der Bahn ermöglichen. Diese kombinierte Sensor- und Kameratechnik ist auch die Voraussetzung für die zweite Innovation des MAAS-Projekts: Eine derart ausgerüstete Bahn braucht nicht mehr unbedingt einen Fahrer im Cockpit – sie kann auch von einem entsprechend ausgebildeten „Operator“ mit Tram-Fahrerlaubnis ferngesteuert werden. Der – oder die – sitzt am Schreibtisch vor mehreren Bildschirmen, die nicht nur den Blick auf die Strecke bieten. Sie verfügen außerdem über sämtliche technischen Informationen und Möglichkeiten, die die Fahrerin oder der Fahrer an Bord der Bahn auch haben, von der Türkontrolle bis zur Weichenstellung. Auch die typische Tram-Klingel funktioniert aus der Ferne.

Digital auf Schienen

Neben den Vorhaben in Darmstadt gibt es in Deutschland weitere Projekte für Assistenzsysteme und Automatisierung im Bahnbetrieb. So hat der ViP Verkehrsbetrieb Potsdam gemeinsam mit seinem Fahrzeuglieferanten Siemens Mobility in einem mehrjährigen Projekt autonomen Straßenbahnbetrieb erforscht. Die Erprobung soll zu einer Automatisierung der Abläufe in einem Depot führen. Im Vollbahn-Bereich setzt die Hamburger S-Bahn auf einer Linie automatisch fahrende Triebzüge ein, allerdings nach wie vor mit Lokpersonal. Vollständig autonom ohne Personal vollziehen die auf die neue Technologie umgerüsteten Bahnen am Endpunkt Fahrten in die Abstellanlage beziehungsweise von dort zur Bereitstellung am Bahnsteig.

Ferngesteuert durch das Depot

Die sogenannte „Teleoperation“ will HEAG mobilo nicht im regulären Liniendienst einsetzen. Aber es gibt durchaus Bereiche, in denen Fernsteuerung Potenziale bietet. Beispielsweise nennt Geschäftsführerin Ann-Kristina Natus die Rangiermanöver von Bahnen auf dem Betriebshof. Hier könnte ein Operator ohne großen Zeitverlust gleich mehrere Züge hintereinander in Waschanlage, Werkstatt oder auf die Abstellplätze rollen lassen. Vorstellbar sei auch, in verkehrsarmen Zeiten etwa am Abend auf Außenstrecken ferngesteuert zu fahren. Nicht zuletzt, um dann ein gutes Bahnangebot aufrechtzuerhalten. In Zeiten des Fachkräftemangels könnte dies langfristig eine Unterstützung darstellen.

30 %

mehr Angebot

will die HEAG mobilo in den nächs­ten Jahren schaffen. Dafür rüstet sie sich mit innovativer Technik.

Teleoperation wäre zudem ein Baustein für ein künftig autonomes, also fahrerloses Bahnfahren, erklärt Prof. Steven Peters, Leiter des Fachgebiets Fahrzeugtechnik an der TU. Wenn ein automatisch fahrendes Fahrzeug aufgrund einer Störung auf seinem Kurs nicht weiter kommt, kann der Operateur von seiner Betriebsleitzentrale aus eingreifen, bis die Automatik wieder funktioniert. Steven Peters macht jedoch deutlich, dass derartige Pläne in ferner Zukunft liegen. In der Automobilindustrie sei die Euphorie des autonomen Fahrens angesichts der hochkomplizierten sicherheitstechnischen Probleme längst verflogen. Für das autonome Auto gebe es zwar schon jede Menge Erfahrungen, Technologie und Daten, doch die Idee vom fahrerlosen Fahren bleibe „ein dickes Brett“. Und für die Straßenbahn sei man erst in der Grundlagenforschung. Der spurgebundene Verkehr liefere völlig andere Erkenntnisse als der Individualverkehr auf der Straße. Ein Beispiel beschreibt Steven Peters: Die klassische Ampel mit Rot, Gelb und Grün verstehe jede einschlägige KI, die Lichtsignale der Straßenbahn dagegen seien unbekannt.

Sicher gestoppt vor dem Hindernis: Die Gefahrenbremse hat der Rechner betätigt (links). Elektronische Helfer der Bahn: Sie haben den Alarm für die Gefahrenbremse ausgelöst (rechts).

Aus der MAAS-Bahn wird deshalb die InnoTram: Sie wird weiter im Einsatz sein und mit konkreten Projekten erforschen, wie das Fahrpersonal noch besser unterstützt werden kann. Beispielsweise ist die Entwicklung eines sogenannten Head-Up-Displays vorgesehen: Das spiegelt dem Personal wichtige Informationen von der Fahrt auf die Windschutzscheibe. Und der Abbiegeassistent: Er soll Flankenfahrten beim Abbiegen quer über die Spuren des Straßenverkehrs sichern – ein immer wieder kritisches Manöver.

Weitere Infos

finden Sie unter:

www.heagmobilo.de/de/innotram

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