Historische Schwarz-Weiß-Fotografie (Sepia-Ton) einer alten Dampflokomotive mit Waggons an einem vollen Bahnsteig mit vielen wartenden Menschen aus der Vogelperspektive.
Zeitzeichen
9 Min
29. april 2025

Siesta: Als man an Bahnhöfen Kissen leihen konnte

Die Entscheidung, auch auf langen Strecken die Eisenbahn zu wählen, hat ihre Vorzüge. Und sieht man sich in Fernzügen um, dann wird offensichtlich, dass die Freiheit, inmitten der schnellen Fahrt ein entspanntes Nickerchen zu machen oder gar in den erholsamen Tiefschlaf zu fallen, ein sehr beliebter Vorzug ist. Wäre es da nicht wunderbar, den Langstrecken-Schlafkomfort durch ein zusätzliches Kissen noch weiter steigern zu können? Am Startbahnhof ein sauberes und frisch verpacktes Kissen leihen und am Zielbahnhof wieder abgeben? Das gab es in Deutschland über einen längeren Zeitraum hinweg bereits. Doch bei genauer Betrachtung ist es gut, dass dieses Kapitel der Eisenbahngeschichte der Vergangenheit angehört. Denn der Kissen-Service war vor allem Dingen ein Kind einer eher harten Zeit.

Nach dem Ersten Weltkrieg bot das Berliner Unternehmen Siesta GmbH an vielen deutschen Fernbahnhöfen einen Kissenverleih an. An den Bahnhöfen mit besonders hohem Reiseaufkommen konnten die in einem Schutzumschlag verpackten Kissen direkt an den Bahnsteigen ausgeliehen werden. Neben der Leihgebühr musste auch ein Pfand entrichtet werden, das an allen großen Zielbahnhöfen wieder ausgelöst werden konnte. Die Preise schwankten in der Zwischenkriegszeit aufgrund der Währungsturbulenzen stark, lagen aber wohl immer ungefähr beim Preisniveau eines Mischbrotes.

Der Aufwand des Betriebs war durchaus beachtenswert: Die Siesta GmbH unterhielt neben dem personalintensiven Verleihgeschäft auch Wäscherei, Mangelei und Näherei. Der Anteil an Handarbeit war damals hoch. Und doch mussten die Kosten im Auge behalten werden.

Zu teuer durften die Leihkissen nämlich nicht sein. Denn anders als in der romantisch verklärten Annahme, dass die Kissen zur Steigerung des Luxuses in der ersten Klasse dienten, bestand die Kundschaft der Siesta GmbH hauptsächlich aus Fahrgästen der dritten Wagenklasse. Die Kissen machten die sprichwörtlich harte Realität der Holzklasse etwas sanfter.

In den 1930er-Jahren übernahm die große Mitropa das Geschäft, aus dem Siesta-Kissen wurde das Mitropa-Reisekissen. Doch auch hier blieb die dritte Wagenklasse das Hauptgeschäftsfeld.

Schwarz-weisse Detailansicht: Metallischer 3D-Schriftzug
Die komfortablen Express-Züge prägen heute das Bild der Eisenbahn aus damaliger Zeit. Doch der Kissenvergleich von Siesta widmete sich eher der Holzklasse.

Millionenfach genutzt und dennoch kaum Spuren hinterlassen

Und so ist es auch kaum verwunderlich, dass es von den „Siesta-Wagen“ auf den Bahnsteigen nur selten – und wenn, dann eher zufällig – erhaltene Fotografien gibt. Die dritte Wagenklasse war für damalige Fotografen kaum ein interessantes Motiv und auch für das durchaus schon vorhandene Marketing der Eisenbahn nur selten relevant. Teure private Abschiedsfotos auf dem Bahnsteig waren ohnehin ein Klassenprivileg. Nicht einmal die ambitionierte Nachbildung der damaligen Epoche hat Siesta auf dem Schirm: Trotz des Wunsches vieler Modelleisenbahner, die Wirklichkeit möglichst detailgetreu darzustellen, sind Siesta-Wagen auf den Miniaturbahnsteigen nur sehr selten zu finden.

Der Kissenverleih endete im Zweiten Weltkrieg. Nicht nur, dass das Verleihgeschäft mit zunehmenden Kriegseinwirkungen schwieriger wurde, auch das Personal wurde entweder an der Front gebraucht oder in anderen Betrieben eingesetzt. Bequemes Reisen war nicht kriegswichtig.

In der Nachkriegszeit wurde die Dienstleistung nicht wieder aufgenommen.Direkt nach dem Krieg gab es Wichtigeres zu tun, danach stieg der tatsächliche Reisekomfort spürbar an und fand mit der Abschaffung der dritten Wagenklasse im Jahr 1956 seinen vorläufigen Höhepunkt.

Heute sind die unbequemen Holzklassezüge unvorstellbar, in beiden noch vorhandenen Wagenklassen sind ergonomische und bequeme Sitzplätze hoher Standard. Niemand muss mehr stundenlang auf ungepolsterten Holzbänken ausharren. Und nicht zu vergessen: Die Reisezeiten sind für die Mehrheit der Passagiere deutlich kürzer. 1925 betrug die Reisezeit im Fernverkehr zwischen Frankfurt am Main und Hannover zwischen vier und sechs Stunden. 2025 beträgt die Reisezeit zwischen diesen beiden nur noch etwas mehr als zwei Stunden. Die Investitionen in moderne Züge, schnellere Fahrzeuge und neue Hochgeschwindigkeitsstrecken zahlen sich aus.

Und so kann man sich wohl sicher sein, dass der Kissenverleih nicht an die Bahnhöfe zurückkehren wird – auch wenn das auf manchen Fahrten vielleicht doch ein wenig schade ist.

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Quellen:

Alfred B. Gottwaldt: "Eisenbahn-Brennpunkt Berlin – Die Deutsche Reichsbahn 1920–1939". 1976, ISBN 3-440-04303-7, S. 56.

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