Innovationen
24.05.2023

Der Bus bringt den
Dorfladen zurück

Keine Kneipe, keine Bank, keine Post. Lebensmittelgeschäft und Apotheke? Fehlanzeige. So sieht die Realität in vielen Dörfern aus. Es mangelt nicht nur an alltäglichen Dienstleistungen. Vor allem älteren Menschen fehlen auch Kontaktmöglichkeiten, wie sie sich etwa beim Einkauf ergeben. Mit einem rollenden Supermarkt wollen Rewe und DB Regio Bus Versorgungslücken schließen.


Erdogan Demircan legt Obst und Gemüse nach. „Bananen und Gurken sind der Renner.“ Erst vor wenigen Minuten ist er mit seinem rotgrünen Gelenkbus aus Richtung Bad Emstal-Riede angekommen. Nun steht das 18-Meter-Gefährt mitten in Haddamar. Seit Kurzem können die Menschen wieder in ihrem Dorf einkaufen – im rollenden Supermarkt von Rewe und DB Regio Bus. Etwa 350 Einwohnerinnen und Einwohner leben in dem landwirtschaftlich geprägten Ortsteil von Fritzlar. Haddamar ist eines von 22 Dörfern, die der Einkaufs-Bus mit frischen Lebensmitteln versorgt, viele davon aus der Region, in Bioqualität und mit dem Fairtrade-Siegel. Auch frankierte Pakete werden angenommen.

Vier Tage pro Woche sitzt Erdogan Demircan am Lenkrad. Erstmals begleitet ihn heute Roland Rupprecht. Mit dem Arbeitsgerät muss sich Rupprecht nicht eigens vertraut machen, schließlich war er fast ein Vierteljahrhundert lang Busfahrer. Die speziellen Abläufe des mobilen Supermarkts kennt er dagegen noch nicht. Streng genommen sind die beiden keine Busfahrer: Im Sinne der Straßenverkehrsordnung gilt das Fahrzeug als Lkw.
In Haddamars Nachbarort wurde das letzte Lebensmittelgeschäft kürzlich geschlossen, die nächste Möglichkeit einzukaufen gibt es im vier Kilometer entfernten Fritzlar. Rüdiger Küllmar muss für seine Besorgungen nun nur noch wenige Schritte machen. Jeden Donnerstag hält der Einkaufs-Bus schräg gegenüber seinem Haus. Neben der Haustür hängt eine Holztafel mit dem Beinamen, unter dem die Familie im Dorf bekannt ist: „Kaufmanns“. „Meine Mutter hat hier früher einen Dorfladen betrieben“, erklärt der 72-Jährige. Vom modernen Supermarkt auf Rädern ist er ganz begeistert. „Wir sind zwar noch mobil, aber so ein Angebot muss man unterstützen.“

Der Bus hat ein Vollsortiment von 700 Produkten an Bord (l.). Fehlt trotzdem etwas, nimmt Rewe-Mitarbeiter Martin Wagner (Foto r., l.) an der Kasse Bestellungen für die Folgewoche auf.

Im Bus wird ein Vollsortiment aus 700 Produkten vorgehalten, darunter Blumensträuße, Tageszeitungen und Brötchen. „Falls etwas fehlt, bringen wir es den Kunden beim nächsten Mal mit“, sagt Rewe-Mitarbeiter Martin Wagner. Wenn er nicht die Kasse bedient, steuert er das Begleitfahrzeug mit dem Nachschub. Anders als in stationären Filialen gibt es im Einkaufs-Bus keine Sonderangebote – aus logistischen Gründen. „Ansonsten sind die Preise wie im Supermarkt“, beobachtet Rüdiger Küllmar. „Ich finde den Einkaufs-Bus super, vor allem für Menschen, die sich nicht einfach ins Auto setzen können“, sagt auch Kundin Elke Friemel.

Von montags bis samstags verkehrt der Bus nach Fahrplan durch drei nordhessische Landkreise. Nachdem ab März zunächst 14 Halte angesteuert wurden, kamen im Mai acht weitere Ortschaften hinzu. Jörn Berszinski hat schon viele positive Rückmeldungen bekommen. Zusammen mit seinen Söhnen Mario und Tobias betreibt der selbstständige Rewe-Kaufmann den mobilen Supermarkt und stationäre Filialen. „Einmal pro Woche bietet der Einkaufs-Bus ein bisschen Infrastruktur und eine gute Gelegenheit für Kontakte.“ Fehle die, könne es sein, dass sich die Leute selbst in kleineren Orten längere Zeit nicht sehen, berichtet Jörn Berszinski. In der Startphase geht es ihm zunächst darum, das Angebot bekanntzumachen und sich eine Stammkundschaft aufzubauen.

Einmal pro Woche bietet der Einkaufs-Bus ein bisschen Infrastruktur und eine gute Gelegenheit für Kontakte.

Jörn Berszinski,
selbstständiger Rewe-Kaufmann und Betreiber des Einkaufs-Busses

Dass der Supermarkt zur Kundschaft kommt und nicht umgekehrt, verstehen die Initiatoren als Stärkung ländlicher Räume und als Beitrag zum Klimaschutz. Damit setzt DB Regio Bus sein Engagement jenseits des ÖPNV fort. Das Verkehrsunternehmen betreibt auch sieben rollende Arztpraxen (siehe „VDV Das Magazin“ 4/2018). Für die Bustochter der Bahn liegt in der mobilen Infrastruktur ein Geschäftsmodell mit Potenzial. „Wir können fast jede Dienstleistung, die es früher auf dem Land in Filialen gab, in einem Bus unterbringen“, erklärt Projektleiter Arndt Hecker: „Daseinsvorsorge ist Teil unseres Auftrags.“ Als Antwort auf die Landflucht und die zunehmende Überalterung der Landbevölkerung hat das Verkehrsunternehmen eine Plattformlösung entwickelt. So können umgebaute Fahrzeuge wichtige Infrastruktur aufs Land bringen und Versorgungslücken schließen – als Bank- oder Versicherungsfiliale, Postagentur oder eben Lebensmittelgeschäft. Voraussetzung ist jedoch, dass Partnerunternehmen den Bedarf erkennen und die Menschen diese Angebote entsprechend nutzen.

Frisches Obst und Gemüse für die Auslage: Erdogan Demircan (Foto r., r.) und Roland Rupprecht steuern den Einkaufs-Bus und bereiten ihn auf Kundschaft vor.

DB Regio Bus betreibt den Bus, Rewe-Kaufmann Jörn Berszinski den Supermarkt darin. Zuvor wurde der ausgediente Linienbus bei einem Tochterunternehmen des niederländischen Herstellers VDL auf sein zweites Leben als Nahversorger vorbereitet. Dabei erhielt der alte Daimler das Kassensystem, die Regale, zusätzliche Klimaanlagen und die Kühlgeräte im Heck. Besonders starke Akkus stellen sicher, dass der Markt bis zu acht Stunden betrieben werden kann, ohne an die Steckdose zu müssen. Fast 900.000 Kilometer hat der Bus auf dem Tacho, nun kommen wöchentlich 500 hinzu. „Das schafft er noch locker“, lacht Fahrer Erdogan Demircan. Abends kehrt der Einkaufs-Bus zu Jörn Berszinskis Markt nach Fuldatal zurück, um für den nächsten Tag wieder fit gemacht zu werden.

Nach 90 Minuten Aufenthalt müssen die drei Männer und der Bus wieder los. Eine knappe halbe Stunde bleibt, um zum nächsten Ort zu kommen und pünktlich zu öffnen. Nächster Halt: Gudensberg-Deute.

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