Innovationen
04.09.2018
Unterwegs im Netz

Die Arztpraxis rollt zur Sprechstunde an

Wenn mit zunehmendem Alter die Mobilität nachlässt und die Häufigkeit der Arztbesuche steigt, haben viele Senioren nicht nur ein gesundheitliches Problem. Wie sollen sie die nächste Praxis erreichen, wenn sie auf dem Land wohnen? Wo Mediziner fehlen oder weit weg sind? In sechs Orte Nordhessens kommt jetzt der „Medibus“ – eine mobile, komplett ausgestattete Praxis samt Arzt und Helferin. Das Projekt soll dazu beitragen, die medizinische Grundversorgung im ländlichen Raum zu stärken.


Dr. Matthias Roth gehört zu den Ärzten, die rausfahren, um ihre Patienten zu behandeln. Während sich jedoch die meisten seiner Hausarztkollegen mit ihrem typischen Köfferchen auf den Weg zum Patientenbesuch machen, bringt Dr. Roth eine nahezu komplett ausgestattete Praxis mit. Der Allgemeinmediziner macht allerdings keine Hausbesuche: Seit Juli ist er im „Medibus“ unterwegs zu Orten, an denen Ärzte fehlen. Nach einem festen Fahrplan hält der Bus von montags bis donnerstags an zentralen Punkten in sechs Gemeinden im Werra-Meißner-Kreis und im Landkreis Hersfeld-Rotenburg. Sontra, Cornberg, Weißenborn, Ringgau, Nentershausen, Herleshausen heißen die Stationen. Jeweils zwei Orte werden pro Tag angesteuert, Cornberg und Weißenborn zweimal pro Woche. Dreieinhalb Stunden dauert jeder Aufenthalt. In dieser Zeit ist Dr. Roth für alle da, die krank sind oder einen medizinischen Rat suchen. Die mobile Praxis verkürzt so den Weg der Patienten zum Arzt.

Besuch beim Arzt: Dr. Matthias Roth (Foto, l.) berät und behandelt auf engem Raum.

600 Patienten in vier Wochen

So wie an diesem August-Donnerstag in Weißenborn – der mit 1.200 Einwohnern kleinsten Gemeinde im Werra-Meißner-Kreis. Busfahrer Bernd Köcher hat die rollende Arztpraxis auf einem Platz vor der Mehrzweckhalle geparkt und die Markisen ausgefahren. Sie machen die Wartebank vor dem Bus zu einem schattigen Plätzchen. Drinnen gibt die Klimaanlage ihr Bestes. Nicht viel los heute. Und vor allem kein gutes Wetter für Senioren: Bei drückenden 33 Grad kommen nur vereinzelt Patienten. Dabei stoßen Dr. Roth und der Medibus während ihrer Stopps in den Gemeinden bislang auf regen Zuspruch. Allein in den ersten vier Wochen nahmen 600 Menschen das neue medizinische Angebot in Anspruch. Fast drei Viertel von ihnen waren älter als 55, jeder Zweite sogar über 75 Jahre alt. „Viele Patienten haben mehrere chronische Erkrankungen, oft verbunden mit Mobilitätseinschränkungen und entsprechend hohem medizinischen Versorgungs- und Verordnungsbedarf“, berichtet Dr. Roth. Bei einigen, die in letzter Zeit keinen festen Hausarzt hatten und sich erstmalig von ihm behandeln ließen, stellte der Allgemeinmediziner bis dahin nicht erkannten Bluthochdruck und teils ausgeprägte Stoffwechselstörungen fest – und konnte weitere Untersuchungen und Therapien veranlassen.

Viele Patienten haben mehrere chronische Erkrankungen,
oft verbunden mit
Mobilitätseinschränkungen.

Dr. Matthias Roth, Arzt im Medibus

Vor der Weißenborner Mehrzweckhalle bringt der Medibus kräftig Farbe auf den Parkplatz. Die Sonderanfertigung des niederländischen Herstellers VDL leuchtet am Heck im Orange der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hessen – der Körperschaft, die im Bundesland für die Versorgung der gesetzlich Versicherten zuständig ist. Vorn glänzt das Nahverkehrsrot von DB Regio. Beide Partner haben den Medibus zusammen mit dem Tech-Unternehmen Cisco Systems auf die Straßen Nordhessens gebracht. „Insbesondere älteren Menschen fällt in schwächer versorgten ländlichen Gebieten der Weg zum Arzt immer schwerer“, sagt Klaus Müller, Vorstand von DB Regio Bus: „Mit dem Medibus kann die medizinische Grundversorgung gestärkt werden.“
Für den Ärztemangel liefert die KV die Zahlen: In der Gegend um Eschwege und Sontra sind je 3,5 Hausarzt-Sitze unbesetzt. In ganz Hessen fehlen 170 Hausärzte. Dass die medizinische Grundversorgung „in unseren Kommunen an einem kritischen Punkt angelangt“ sei, schreiben auch die Bürgermeister von Herleshausen, Nentershausen, Cornberg und Sontra in einer gemeinsamen Stellungnahme. Seit 2017 arbeiten sie deshalb zusammen daran, die gesundheitliche Versorgung in ihren Orten zu stärken. Neue vernetzte Strukturen sollen aufgebaut werden, um die medizinische Versorgung und die Gesundheitsvorsorge der Bevölkerung langfristig zu sichern und zu stärken.

Das sieht auch Weißenborns Bürgermeister Thomas Mäurer so. Der Medibus sei eine sinnvolle Unterstützung, insbesondere in Orten, wo es keine Arztpraxen mehr gibt: „Aber der Bus kann den niedergelassenen Hausarzt nicht ersetzen.“ Zehn Jahre sei es jetzt her, dass in Weißenborn der letzte Hausarzt seine Praxis schloss, berichtet Thomas Mäurer. Der nächste Hausarzt praktiziere im knapp zehn Kilometer entfernten Ringgau, der nächste Facharzt sei ähnlich weit weg in Eschwege. Sämtliche Hoffnungen, dass sich wieder ein Mediziner in Weißenborn niederlässt, wurden bislang enttäuscht. Trotzdem bemüht sich die Gemeinde weiter. „Es kann aber nicht die Aufgabe einer Kommune sein, die ärztliche Versorgung aufrechtzuerhalten“, erklärt der parteilose Bürgermeister. Er sieht die Politik in der Pflicht. Dass in die Region jede Woche wenigstens zweimal der Medibus kommt, verschaffe für die nächsten beiden Jahre etwas Luft. „Außerdem signalisiert er Medizinern, die sich eine Ansiedlung überlegen, dass es Unterstützung gibt“, so Thomas Mäurer.

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Bus mit voll ausgestatteter Praxis

Entlastung und Ergänzung – keineswegs Konkurrenz. Das will auch Dr. Matthias Roth für seine niedergelassenen Kollegen sein. Denn die seien oft bis an die Grenzen ihrer eigenen Belastbarkeit im Einsatz. Wie eine stationäre Praxis verfügt der Medibus über einen Empfangsbereich, in dem heute die medizinische Fachangestellte Simone Richter arbeitet. Im Wechsel mit ihrer Kollegin Samara Abhau begrüßt sie die Patienten. Unmittelbar an ihren Platz grenzt ein kleiner Warteraum mit drei Sitzen sowie ein Behandlungszimmer mit einer Liege. Auf engem Raum kann der erfahrene Allgemeinmediziner Patienten jeden Alters untersuchen und versorgen. Dafür stehen ihm ein Monitorgerät samt EKG und Defibrillator sowie ein kleines Labor zur Verfügung. Stethoskop, Blutdruckmessgerät und Holzspatel liegen an seinem PC-Arbeitsplatz in Reichweite. Von seinem Rechner aus hat er Zugriff auf die Praxis-EDV. Falls notwendig, kann Dr. Roth einen Kollegen telefonisch hinzuziehen. Der Bus verfügt über eine sichere Datenverbindung und über eine Ausstattung für Telemedizin. Mindestens zwei Jahre lang soll das Fahrzeug im Dienst der KV Hessen stehen. Diese beziffert die Gesamtkosten auf rund 600.000 Euro.

Geschäftsmodell
DB Medibus

Mit dem Produkt „Medibus“ engagiert sich DB Regio Bus verstärkt im Gesundheitsmarkt. Die Fahrzeuge werden inklusive Fahrer und Instandhaltung vermietet. Ein Geschäftsmodell, das sich rechnet, wie Guido Verhoefen, Leiter Marketing und Geschäftsentwicklung, erläutert: „Wir können auf dieser wirtschaftlichen Basis expandieren.“ Das Verkehrsunternehmen verstehe sich zudem als Problemlöser im ländlichen Raum. „Wenn unsere Besteller über den Busverkehr hinaus ein Thema haben, haben wir dafür ein ­offenes Ohr.“ Neben dem neuen Medibus, der für die KV Hessen fährt, gibt es in Deutschland ein mehr als zehn Jahre altes, umgebautes Modell, das 2017 im Auftrag der Charité in Berlin als Impfmobil vor Flüchtlingsunterkünften diente. Mittlerweile wird es für die Impfversorgung von Schülern in Berlin und Brandenburg genutzt. Weitere Busse werden demnächst für das Robert-Koch-Institut gebaut. Zudem will die Deutsche Bahn ab April 2019 einen weiteren Bus für die konzernweite Gesundheitsvorsorge einsetzen.

Gegen 17 Uhr nähert sich das Ende der Sprechstunde in Weißenborn. Bernd Köcher bringt das Fahrzeug samt Team zurück ins Depot nach Rotenburg a. d. Fulda – dem täglichen Start- und Endpunkt. Dort wird der Bus nach jedem Einsatz den Hygienevorschriften entsprechend speziell gereinigt und für die nächste Tour vorbereitet. Zudem wird überprüft, ob die Medikamente und Impfstoffe in den Kühlschränken an Bord bei den richtigen Temperaturen aufbewahrt werden. Für den Bus beginnt am Donnerstagabend das Wochenende. Dann hat Dr. Roth, der bei der KV Hessen angestellt ist, schon 28 Stunden vor Ort und viele Kilometer auf Achse hinter sich – und am Freitag keineswegs frei. Er übernimmt beispielsweise Vertretungen oder arbeitet im Rettungsdienst. Am Montagmorgen beginnt die wöchentliche Runde für ihn sowie die jeweils diensthabende medizinische Fachangestellte und den Busfahrer durch die sechs Gemeinden von vorn. Nächster Halt Sontra.

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