Frau Knapp, Sie sind seit Juni neue Geschäftsführerin für den Eisenbahnverkehr beim Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Welche ist Ihrer Meinung nach die größte Herausforderung für den deutschen Eisenbahnverkehr?
» Nicole Knapp: An erster Stelle sehe ich ganz klar die Verlässlichkeit und Leistungsfähigkeit der Infrastruktur. Sowohl der Schienengüter- als auch der Schienenpersonenverkehr sind massiv davon betroffen, dass Kapazitäten knapp sind, Baustellen zunehmen und die Qualität des Netzbetriebs nicht überall den Anforderungen entspricht. Ohne jeden Zweifel: Die Infrastruktur muss saniert, ausgebaut und modernisiert werden. Die große Herausforderung ist es, den fahrenden Betrieb mit den erforderlichen Bauarbeiten in Einklang zu bringen. Die Baumaßnahmen dürfen weder eine dauerhafte wirtschaftliche Belastung für die Eisenbahnverkehrsunternehmen darstellen, noch dürfen die Einschränkungen für Reisende und Güterverkehrskunden zu gravierend ausfallen. Das ist anspruchsvoll, aber machbar. Voraussetzung: Politik, Branche und Gesellschaft ziehen an einem Strang.
Sie bringen durch Ihre früheren Stationen bei der Bahnindustrie, einem Verkehrsunternehmen und der DB-Infrastruktur eine 360-Grad-Perspektive auf die Schiene mit. Welche Erfahrung aus dieser Zeit sehen Sie als besonders wertvoll für Ihre jetzige Arbeit an, um die Interessen der VDV-Mitgliedsunternehmen zu bündeln und voranzubringen?
» Auch wenn ich durch meine unterschiedlichen beruflichen Stationen eine umfassende Perspektive mitbekommen habe, sind es manchmal einzelne Erfahrungen, die die Sache auf den Punkt bringen. Bei mir war es der Blick hinter die Kulissen bei der Infrastruktur: Dort lernt man schnell, dass ein perfekt geplanter Fahrplan wenig bringt, wenn Weichen, Brücken oder Stellwerke nicht mithalten. Hinter dieser einfachen Erkenntnis stehen aber komplexe Aufgaben und Herausforderungen, die es gemeinschaftlich zu lösen gilt. Hier sehe ich auch für mich eine wichtige Rolle.
Ein zentrales Thema der Branche ist der massive Investitionsbedarf in die Infrastruktur. Wo müssen Politik und Branche jetzt die dringendsten Prioritäten setzen, um das Netz fit für die Zukunft zu machen?
» Kurz gesagt: Sanieren, digitalisieren, erweitern. Wir brauchen eine konsequente Instandsetzung des vorhandenen Netzes, digitale Stellwerke und ETCS für mehr Kapazität. Es braucht aber auch echte Ausbauschritte, vor allem auf Korridoren mit massivem Güter- und Personenaufkommen. Es geht nicht nur um Beton und Schienen, sondern auch um Planungsbeschleunigung und vorausschauende Planungsreserven. Sonst haben wir zwar die Mittel, aber die Projekte kommen zu spät auf die Strecke.
Neben dem Personenverkehr ist der Schienengüterverkehr entscheidend für die Klimaziele und die Wirtschaft. Wo sehen Sie die größten Hebel, um mehr Güter von der Straße auf die Schiene zu verlagern und welche Rahmenbedingungen braucht es dafür von der Politik?
» Dies ist ganz klar eine funktionierende Infrastruktur als Grundvoraussetzung. Zu den großen Hebeln zähle ich natürlich auch faire Trassenpreise und ausreichend Güterterminals. Ein weiterer ist die Ausnutzung technisch möglicher Zuglängen, ein 740-Meter-Güterzug sollte kein Exot, sondern Standard sein. Entscheidend ist aber auch die Zuverlässigkeit: Wenn Unternehmen wissen, dass ihre Ware pünktlich ankommt, wechseln sie von der Straße auf die Schiene. Stau macht niemandem Spaß – weder privat noch im Lieferverkehr.
Der „Tag der Schiene“ macht die Vielfalt und Bedeutung der Bahnbranche sichtbar. Welche Bedeutung hat dieser Aktionstag aus Ihrer Sicht?
» Der „Tag der Schiene“ ist wie ein Blick ins Schaufenster. An diesem Tag öffnet die Branche Türen und Werkstätten, zeigt Hightech und Herzblut. Der Tag macht deutlich, wie vielfältig, innovativ und komplex die Eisenbahn ist. Üblicherweise erleben Fahrgäste ja nur den Zug und nicht die dahinterliegende Komplexität, um tausende Züge täglich von A nach B zu bekommen. Und Coburg ist ein wunderbarer Ort dafür – mitten in Deutschland, mitten in Europa.
Über Events hinaus: Wie kann es gelingen, die Vorteile der Schiene im Alltag der Menschen sichtbarer zu machen und dauerhaft mehr Fahrgäste zu gewinnen, auch über Erfolgsmodelle wie das Deutschland-Ticket hinaus?
» Das Deutschland-Ticket war ein Quantensprung, weil es für mehr Einfachheit sorgt. Die vielen mit Herzblut geführten Diskussionen um den Zustand der Bahn zeigen ja, dass die Menschen die Bahn nutzen wollen. Das System Schiene fasziniert. Um das aber auch in steigende Fahrgastzahlen umzumünzen, braucht es neben dem entsprechenden Angebot verlässliche Verbindungen, saubere Bahnhöfe und gute Information. Und wir sollten viel stärker erzählen, was Schiene leistet – von regionaler Wertschöpfung bis Klimaschutz. Gute Kommunikation gehört eben auch zur Mobilitätswende.
Die Branche steht im Personalbereich vor massiven Herausforderungen. Es ist schwierig, geeignetes Personal für die Eisenbahnbranche zu gewinnen. Wo muss man hier ansetzen?
» Wir müssen früh in Schulen und Hochschulen präsent sein und zeigen, wie spannend und sinnstiftend Eisenbahn ist. Gute Arbeitsbedingungen, moderne Weiterbildung und echte Karrierepfade sind Pflicht. Und: Wir sollten die Vielfalt fördern – die Eisenbahn ist kein „Männerding“, sondern Teamarbeit für alle, die Mobilität gestalten wollen. Zudem gibt es gerade bei der Bahninfrastruktur in den kommenden 10 Jahren viel zu tun. Das zeigen nicht zuletzt die im Sondervermögen veranschlagten Summen.
Blicken wir fünf Jahre in die Zukunft: Wenn wir uns zum „Tag der Schiene“ 2030 wieder unterhalten, welches Etappenziel für die deutsche Eisenbahn sollten Politik und Branche bis dahin erreicht haben?
» 2030 wünsche ich mir ein Netz, das spürbar stabiler und digitaler ist und in dem die Fahrgäste und Güterverkehrskunden sagen: „Die Züge kommen deutlich zuverlässiger als vor fünf Jahren.“ Und wenn wir uns dann wieder zum „Tag der Schiene“ treffen, hoffe ich, dass die Schlagzeilen nicht von Sanierungsstau und -problemen bestimmt sind, sondern von den vielen Fortschritten, die wir bis dahin erreicht haben.
Vielen Dank!
Zum Tag der Schiene
Der „Tag der Schiene“ ist ein jährliches, bundesweites Aktionswochenende, das die Vielfalt und Zukunftsrelevanz des Schienenverkehrs präsentiert. Initiiert vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) sowie der Bahnbranche und koordiniert von der Allianz pro Schiene, findet er jedes Jahr im September statt. Bundesweit bieten zahlreiche Veranstaltungen wie Tage der offenen Tür, Bahnhofsfeste und Sonderfahrten spannende Einblicke hinter die Kulissen. Die Eröffnungsveranstaltung findet jedes Jahr in dem Bundesland statt, welches den Vorsitz der Verkehrsministerkonferenz innehat. Im Jahr 2025 ist dies Bayern, das sich für eine Eröffnung in der Eisenbahnstadt Coburg entschieden hat.
www.tag-der-schiene.de