Lange vor der Diskussion um Wasserstoff oder batterieelektrische Antriebe forschte der Ingenieur Moritz Honigmann im Jahr 1884 an einer revolutionären Idee: der Natronlokomotive. Sie versprach einen Schienenverkehr ohne Rauch, ohne Feuer und ohne Lärm. Zu der Zeit, als rauchende Dampfloks ganze Kleinstädte mit ihren Abgasen einnebelten, dachte man in Aachen also über eine feuerlose Dampflokomotive für den engen Stadtverkehr nach.
Feuerlose Natron-Straßenbahn-Lokomotive in Aachen im Jahr 1884.
Innovationsdruck: Die Suche nach der sauberen Stadtbahn
Im späten 19. Jahrhundert erstickten die Städte im Rauch der Industrialisierung. Während die Dampflok auf der Fernbahn noch unangefochten war, stellte sie für den innerstädtischen Nahverkehr ein massives Problem dar. Ruß, Lärm und die Gefahr durch Funkenflug machten herkömmliche Dampfloks für Straßenbahnen unattraktiv. Gleichzeitig suchten die Betreiber händeringend nach Alternativen zur teuren Pferdebahn. In diesem Klima technologischen Umbruchs präsentierte der Aachener Chemiker und Unternehmer Moritz Honigmann seine Lösung.
Wie funktioniert eine Natronlokomotive?
Honigmanns Konzept basierte auf einem physikalisch-chemischen Prinzip, das ohne Verbrennung auskam. Die Natronlokomotive nutzte die hygroskopische Eigenschaft von Natronlauge (NaOH).
Der Kreislauf: Die freiwerdende Prozesswärme (bis zu 180 Grad Celsius) wurde genutzt, um das Wasser im Kessel erneut zum Sieden zu bringen und neuen Dampf für den Antrieb zu erzeugen.
Es handelte sich um einen geschlossenen Kreislauf, der theoretisch einen lokal emissionsfreien Schienenverkehr ermöglichte. Eine echte Innovation, lange bevor die öffentliche Debatte um Umwelt- und Klimaschutz entstand.
Der Feldversuch in Aachen 1884
Im Juni 1884 startete der Praxisbetrieb auf der Strecke der Aachener Straßenbahn zwischen Aachen und Burtscheid. Die technischen Daten überzeugten zunächst:
Betriebsdauer: Eine Füllung Natronlauge reichte für etwa vier bis fünf Stunden Betrieb ohne Nachladen.
Komfort: Passagiere und Anwohner lobten die absolute Rauchfreiheit und den leisen Lauf.
Die Aachener Experimente sorgten international für Aufsehen und stellten alternative Antriebe im 19. Jahrhundert ins Rampenlicht. In Berlin und Leipzig wurden Lizenzen für Honigmanns Patent erworben.
In Minneapolis (USA) experimentierte die Nahverkehrsgesellschaft zwischen 1886 und 1891 mit größeren Natrontanks.
Korrosion und Elektrizität: Warum die Technik scheiterte
Trotz der vielversprechenden Ansätze setzte sich die Technik nicht durch. Die Nachteile der Natronlokomotive lagen weniger im Prinzip als in den Materialien der damaligen Zeit:
Energiebilanz: Die verbrauchte, verdünnte Lauge musste stationär unter hohem Energieaufwand durch Einkochen wieder aufkonzentriert werden. Der Gesamtwirkungsgrad sank dadurch drastisch.
Konkurrenz: Werner von Siemens hatte bereits 1879 die erste elektrische Lokomotive präsentiert. Die Elektrifizierung bot eine sauberere, wartungsärmere und effizientere Lösung, die die chemischen Speicherlokomotiven schnell obsolet machte. Der Elektroantrieb war günstiger im Unterhalt und einfacher in der Anwendung.
Historisches Erbe für moderne Debatten
Die Natronlokomotive bleibt eine Kuriosität der Eisenbahngeschichte. Und trotzdem ist sie so viel mehr: Sie zeigt, dass der „Hunger nach Energie“ und der Wunsch nach Emissionsfreiheit keine neuen Phänomene sind. Eisenbahnbetrieb soll sauber und kostengünstig sein, z.B. durch weitgehende Elektrifizierung.
Honigmanns Ansatz einer thermochemischen Speicherung wird heute in der Solartechnik und bei Wärmespeichern wieder erforscht und weiterentwickelt. Honigmanns Idee lebt weiter.