Innovationen
9 Min
9. Juni 2025

Nächste Testphase gibt Impulse auf dem Weg zum Leitmarkt

Der Start autonomer Flotten im ÖPNV rückt näher. Die Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag Deutschland zum Leitmarkt für autonomes Fahren machen und mit den Ländern Modellregionen entwickeln und mitfinanzieren. Unterdessen stehen in Hamburg zwei Projekte vor dem Eintritt in die nächste Phase eines Probebetriebs, der auf öffentlichen Straßen und im nächsten Jahr mit Testfahrgästen stattfinden soll. Erste Befragungen signalisieren eine positive Einstellung der Hamburgerinnen und Hamburger gegenüber dem ÖPNV mit autonomen Fahrzeugen.

„Tor zur Welt“: Seinen Beinamen verdankt Hamburg vor allem dem Hafen. Für Mohamed Mezghani, Generalsekretär des Weltverbands UITP, ist die Hansestadt auch ein „Ort mit einem bewundernswerten öffentlichen Nahverkehr“. Für die Mobilität von morgen wird dort und andernorts gerade Pionierarbeit geleistet. Zwei Projekte zum autonomen Fahren stehen kurz vor dem Eintritt in die nächste, noch etwas heißere Phase. „Alike“ und „Ahoi“, so ihre Namen, dürften im Rahmen des UITP Summit das Interesse des Fachpublikums aus aller Welt auf sich ziehen.

Flexibel, nachhaltig und barrierefrei: Für die Zukunft der Mobilität gilt die Hansestadt als Blaupause. Das Ziel ist ambitioniert: Bis 2030 sollen die Hamburgerinnen und Hamburger 80 Prozent ihrer Wege im Umweltverbund zurücklegen – zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit Shared Mobility oder dem ÖPNV. Möglich soll das mit autonomen Fahrzeugen werden, die den klassischen Linienverkehr mit Bussen und Bahnen ergänzen. Projektleiterin Ulrike Arndt macht klar, dass das Verkehrsunternehmen Hamburger Hochbahn mit dem innovativen Hightech-Einsatz das Mobilitätsangebot deutlich erweitern will, um „noch mehr Menschen für den ÖPNV zu begeistern“. Die Hochbahn ist überzeugt, dass autonomes Fahren entscheidend dazu beiträgt, den öffentlichen Nahverkehr effizienter zu gestalten. Autonomes Fahren leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Mobilitätswende.

Eine vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) durchgeführte wissenschaftliche Akzeptanzforschung, an der rund 3.000 Bürgerinnen und Bürger bei der ersten von insgesamt drei Befragungen im November 2024 teilgenommen haben, untermauert die hohe Zustimmung in der Hansestadt. Mehr als die Hälfte der Befragten äußerte sich positiv zum autonomen Fahren, nur ein Fünftel war dagegen kritisch. Positiv sind die Erwartungshaltungen an das innovative Angebot: Drei Viertel der Befragten erwarten eine Verbesserung in der ÖPNV-Verfügbarkeit, und etwa die Hälfte kann sich vorstellen, künftig häufiger auf die Nutzung des eigenen Autos zu verzichten, wenn der ÖPNV durch autonomes Ridepooling erweitert würde.

"Für uns spielt nicht nur ein sicheres und zuverlässiges Selbstfahrsystem eine zentrale Rolle, sondern auch die Automatisierung der klassischen Fahrernebentätigkeiten."


Ulrike Arndt

Leiterin des Projekts „Alike“ bei der Hamburger Hochbahn

Erstmalig auf den Straßen einer deutschen Großstadt werden die autonomen Kleinbusse des Herstellers Holon zu sehen sein - hier noch als Visualisierung.

In einem gemeinsamen Service vereint

Unter der Leitung der Hochbahn arbeiten in dem Projekt „Alike“ der On-Demand-Anbieter Moia, die Fahrzeughersteller Holon und Volkswagen Nutzfahrzeuge, das KIT als Forschungspartner und die Hamburger Behörde für Verkehr und Mobilitätswende zusammen. Weiterer Partner ist die DRM Datenraum Mobilität GmbH, um gewonnene Daten europaweit zu teilen. Der Bund fördert „Alike“ mit 26 Millionen Euro. In der zweiten Jahreshälfte geht der Testbetrieb mit autonomen Fahrzeugen in eine neue Phase, zunächst mit Moia, ab 2026 auch mit den Holon-Shuttles. Bis zu 20 autonome Fahrzeuge beider Hersteller werden in einen gemeinsamen On- Demand-Ridepooling-Dienst integriert, um sie im Realbetrieb zu erproben. Über Apps werden die Moia-Shuttles auch für Nutzerinnen und Nutzer digital buchbar gemacht. „Alike“ integriert somit zwei autonom fahrende Flotten von zwei Betreibern und verschiedene Fahrzeuge nahtlos in ein gemeinsames On-Demand-Ridepooling-Angebot, das den ÖPNV ergänzen kann. Dabei handelt es sich um einen Erprobungsbetrieb: erste, wichtige Schritte auf dem Weg zu einem zukünftigen Regelbetrieb, die dem langfristigen Ziel dienen, Erkenntnisse für eine Skalierung zu gewinnen. Dieses Zusammenspiel von privaten und öffentlichen Unternehmen macht laut Moia-Website „die Einzigartigkeit dieses Projekts aus“. Die autonomen Testfahrten starten zunächst mit Sicherheitsfahrpersonal an Bord, aber noch ohne Fahrgäste. Das soll sich nächstes Jahr ändern. Zunächst noch nicht für jeden Fahrgast, sondern erst einmal für eine geschlossene Nutzergruppe ausgewählter Kundinnen und Kunden, die das autonome Shuttle per Moia App und hvv Switch App buchen und mitfahren dürfen. Moia hat in den vergangenen Jahren nicht nur wertvolle Erfahrungen als Ridepooling-Anbieter gesammelt, sondern auch umfangreiches Know-how im Bereich autonomes Fahren aufgebaut – insbesondere bei der Entwicklung des ersten autonomen Serienfahrzeugs, dem ID. Buzz AD. Die letzten beiden Buchstaben stehen für Autonomous Driving. Derzeit testet die Volkswagen-Tochter mit rund 100 Prototypen des ID. Buzz AD nicht nur in Hamburg, sondern auch in München, Austin (Texas) und Oslo. Moia setzt im Projekt „Alike“ bis zu zehn Fahrzeuge ein.

Vorbereitungen laufen seit dem Herbst

Bei Moia finden bereits seit dem Herbst Tests mit Mitarbeitenden statt, die den Erprobungsbetrieb mit Testnutzerinnen und -nutzern vorbereiten. Die Tests umfassen nicht nur die reine autonome Fahrfunktion im dichten Verkehr, sondern beinhalten alle Aspekte, die für eine sichere und komfortable Beförderung von Kunden notwendig sind. Software übernimmt mithilfe künstlicher Intelligenz all jene Aufgaben, die bisher durch das Fahrpersonal übernommen wurden. Moia arbeitet im Projekt in einer Doppelrolle: Neben dem Betrieb des ID. Buzz AD stellt das Unternehmen die Betriebs- und Ridepooling-Software für beide Betreiber und Fahrzeugtypen bereit und fügt im Verlaufe des Projekts alle Bestandteile in einem umfassenden Angebot zusammen. Die zweite Hälfte der für den Testbetrieb vorgesehenen autonomen Shuttles sind Entwicklungen von Kleinbussen namens „Holon urban“ mit Platz für bis zu 15 Fahrgäste. Das Tochterunternehmen des Automobilzulieferers Benteler wird damit erstmalig auf den Straßen einer deutschen Großstadt unterwegs sein. Für den autonomen Betrieb nutzen beide Fahrzeugtypen die Technologie von Mobileye. Gegründet in Israel, wurde das Unternehmen 2017 vom US-amerikanischen Halbleiterproduzenten Intel übernommen. Jedes Fahrzeug verfügt über zwei voneinander unabhängige Systeme aus Kameras sowie Radar- und Lidarsensoren, die für einen Rundumblick sorgen, diesen auf einen Hochleistungsrechner schaffen und Fahrbefehle umsetzen.

Der ID. Buzz AD soll das erste autonome Serienfahrzeug von Volkswagen werden. Erste Tests auf öffentlichen Straßen hat er erfolgreich hinter sich gebracht – mit Sicherheitsfahrer.

Eigener Betriebshof für die Shuttles

Unterdessen entsteht auch eine Infrastruktur für die autonome Shuttleflotte. An zentraler Stelle des von diesen Fahrzeugen bedienten Gebiets baut die Hochbahn den ersten Betriebshof – mit Ladeinfrastruktur, Werkstatt, Verwaltungsgebäude und Platz für zehn Fahrzeuge. Zur Stromerzeugung kommen dort Photovoltaikanlagen zum Einsatz. Die Gebäude werden so konzipiert, dass sie demontierbar und damit an anderer Stelle wiederverwendbar sind, ein großer Beitrag zur Nachhaltigkeit. Von diesem Betriebshof aus sollen die Holon-Shuttles zu ihren Testfahrten aufbrechen.

Für den Start ins autonome ÖPNV-Zeitalter muss über die Fahrzeugtechnik hinaus hinter den Kulissen eine Menge an Details durchdacht und vorbereitet werden. Hochbahn-Projektleiterin Ulrike Arndt beschreibt: „Für uns als ÖPNV-Betrieb spielt nicht nur ein sicheres und zuverlässiges Selbstfahrsystem eine zentrale Rolle, sondern auch die Automatisierung der klassischen Fahrernebentätigkeiten.“ Ob Türkalibrierung, Rampensteuerung oder das Aufstellen eines Warndreiecks: „Die Liste an Aufgaben, die über das reine Fahren hinausgehen, ist lang und essenziell für einen reibungslosen Betrieb.“

Zu den Aufgaben zählt weiterhin der Aufbau und die Erprobung einer Leitstelle, die den Betriebsablauf der autonomen Fahrzeuge im Blick hat und bei Unregelmäßigkeiten schnell eingreifen kann. Und nicht zuletzt, betont Ulrike Arndt: „,Alike‘ verfolgt das Ziel, einen autonomen Level-4-Betrieb zu realisieren. Gemeinsam mit unseren Partnern arbeiten wir an allen Aspekten, die für einen autonomen ÖPNV-Betrieb relevant sind – von den technischen Voraussetzungen, die ein Fahren ohne Sicherheitsfahrer nach Projekt- ende ermöglichen, bis hin zu prozessualen und kundenseitigen Anforderungen.

Die Basis für die autonomen Fahrzeuge im Projekt „Ahoi“ von vhh.mobility ist das E-Shuttle von eVersum. Die Fahrzeuge werden neun Sitzplätze haben sowie zusätzlich Stellfläche für einen Rollstuhl oder Kinderwagen.

vhh.mobility baut gemischte Flotte auf

Auch vhh.mobility – die Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein – treiben die Einführung des autonomen Fahrens im Süden und jenseits der Citylagen in der Hansestadt voran. Vor wenigen Jahren noch ein reiner Busbetrieb, entwickelt sich das Verkehrsunternehmen zu einem Anbieter moderner Mobilitätsdienstleistungen. Von manuell zu autonom: Ziel eines aktuellen Projekts ist es, zunächst eine gemischte Flotte für den On-Demand-Betrieb aufzubauen, zu testen und in den Regelbetrieb zu überführen. Der Projektname „Ahoi“ klingt wie ein Seemannsruf, steht aber für „Automatisierung des Hamburger On-Demand-Angebots mit Integration in den ÖPNV“. „Das Besondere ist, dass wir das komplette Know-how innerhalb unseres Unternehmens aufbauen und weiterentwickeln“, erklärt Lennart Meyer, Pressesprecher bei vhh.mobility.

Testfahrten im Süden Hamburgs

Im Rahmen einer Kooperation mit der Ingenieurgesellschaft Auto und Verkehr (IAV) soll im zweiten Halbjahr das erste von fünf autonomen Fahrzeugen des Herstellers eVersum eintreffen und mit Sicherheitsfahrpersonal an Bord voraussichtlich Anfang 2026 in den Testbetrieb im Süden Hamburgs auf die Straße gehen. Start und Ziel der Testfahrten wird ein eigener Shuttle-Betriebshof in Harburg, dessen Baubeginn für die Mitte des Jahres geplant ist. Unter technischer Aufsicht werden die neuen Fahrzeuge in den bestehenden On-Demand-Service „hvv hop“ mit den manuell betriebenen „London-Taxis“ des Herstellers LEVC integriert – auch Fahrgäste dürfen bereits 2026 an Bord der autonomen Kleinbusse gehen, allerdings noch im Rahmen einer geschlossenen Nutzergruppe. Der Bund unterstützt das Projekt, an dem unter der Leitung von vhh.mobility unter anderen das Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme, die TU Hamburg, die städtische Behörde für Verkehr und Mobilitätswende sowie der VDV beteiligt sind, mit 18 Millionen Euro. Perspektivisch soll die Flotte um bis zu 20 Fahrzeuge auf dem vollautomatischen Level 4 erweitert werden, die dann auch in das ­Datenökosystem von „hvv hop“ eingebettet sein werden. „Unser Ziel ist es, dass es Mitte 2027 nach Ende des Projekts nahtlos weitergeht“, unterstreicht Pressesprecher Lennart Meyer: „Wir arbeiten darauf hin, die Fahrzeuge langfristig in die Flotte zu integrieren.“ Denn gegen Ende der 2020er-Jahre soll in Hamburg der Hochlauf der autonomen On- Demand-Shuttles und damit die Mobilitätswende an Schwung gewinnen.

Weitere Infos unter:

http://bit.ly/hochbahn_autonom

http://vhh-mobility.de/hop/ahoi

VDV-Positionspapier unter:

www.vdv.de/positionen

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