Infrastruktur
9 Min
17. DEZEMBER 2025

Kraftakte für eine neue Bahn

Die Reaktivierung still gelegter Bahnstrecken fordert reichlich Geld und Geduld. Die Hermann-Hesse-Bahn in Württemberg ist ein typisches Beispiel. Ende Januar soll Calw nach 40-jähriger Pause wieder einen Schienenanschluss an das Stuttgarter S-Bahn-Netz erhalten. Die Kreisstadt ist der Geburtsort des Schriftstellers und Dichters, der in seinen Werken oft Bezug auf die Eisenbahn nahm.

Vor gut einem Jahr lockte ein technischer Kraftakt Kamerateams und Schaulustige in die beschauliche Fachwerkidylle im Nagold-Tal. Am Haken eines Spezialkrans wurde eine 30 Meter lange und 29 Tonnen schwere Fußgängerbrücke aus Glas und Stahl hoch über die Dächer gehoben. Nun verbindet sie eine gläsernen Aufzugs- und Treppenturm auf einem Parkhausdach mit dem neuen Bahnsteig für die Hermann­Hesse-Bahn hoch oben am steilen Hang.

Die spezielle Topografie im engen Tal erfordert Zughalte auf zwei Etagen. Auf Gleis 1 fahren wie bisher die Züge von Pforzheim nach Horb. Und das auch schon hoch über der Stadt, auf der Höhe des dritten Parkhausdecks am Calwer ZOB, dem Zentralen Omnibusbahnhof. Neu ist Gleis 2, noch einmal rund elf Meter höher. Hier startet künftig die Hesse-Bahn. Auf der Trasse der Mitte des 19. Jahrhunderts gebauten „Württembergischen Schwarzwaldbahn“ entsteht ein neues Angebot im Schienennahverkehr hinüber nach Weil der Stadt und weiter nach Renningen. Beide Orte sind Stationen der Stuttgarter S-Bahn. Die neue Linie wird in den Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) aufgenommen. Und damit wird es erstmals möglich, mit dessen Verbundtickets günstig in den nördlichen Schwarzwald zu fahren. Aktuelle Hochrechnungen prognostizieren mindestens 3.000 Fahrgäste am Tag.

Luftaufnahme einer Gleisbaustelle im herbstlichen Wald: Ein grüner Schienenkran hebt ein großes, gewölbtes Betonelement vor ein Tunnelportal der Hermann-Hesse-Bahn, um eine Einhausung für den Fledermausschutz zu errichten

Trennwand im Tunnel schützt die Fledermäuse

Als Maßnahme des Artenschutzes war an diesem Tunnel eine Trennwandkonstruktion erforderlich, siehe Bild oben. Dass hieraus jedoch eine massive Stahlbetonabtrennung und aufwändige „Einhausung“ vor den Portalen wurden, war so weder von den Naturschützern des Nabu noch vom Zweckverband Hermann-Hesse-Bahn erwartet worden. Auch dass zur Sicherstellung, dass die Tiere nicht in den Bahnbereich, sondern in ihre Kammer an der Seite einfliegen, zwei Jahre vorbereitende Untersuchungen erforderlich waren, hatte niemand erwartet: Die Fledermäuse werden mit Ultraschall „vergrämt“, also vom falschen auf den richtigen Weg zu ihren Ruheplätzen geleitet. Diese innovative Lösung war von der zuständigen Behörde jedoch erst nach langer Prüfung akzeptiert worden. Entsprechend spät gab es auf diesem Streckenabschnitt das Baurecht.

Wo bis in die Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts dieselnd brummende Schienenbusse die immer weniger nachgefragte Nahverkehrsleistung erbrachten, steht ein ökologisch sauberer Neubeginn bevor. Die in Karlsruhe ansässige Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG) ist als Betreiber der Hesse-Bahn beauftragt. Sie wird batterieelektrische Triebzüge vom Typ „Mireo“ einsetzen. Diese können den Strom für ihre Akkus auf dem Abschnitt Weil der Stadt – ­Renningen während der Fahrt per Stromabnehmer aus der Oberleitung der S-Bahn aufnehmen. Genug Energie, um bis nach Calw und zurück auf der nichtelektrifizierten Strecke fahren zu können.

Batterieelektrisch mit dem „Mireo“

Drei Triebzüge stellt das Land Baden-Württemberg zur Verfügung. Die Fahrzeuge sind von Siemens Mobility schon ausgeliefert und derzeit vermietet, unter anderem an die Regio S-Bahn Ortenau. „Wir können aber vom ersten Tag an, voraussichtlich dem 1. Februar 2026, mit diesen Zügen fahrplanmäßig starten“, freut sich Helmut Riegger, Landrat und Chef des Zweckverbands Hermann-Hesse-Bahn. Zu diesem Zweckverband haben sich der Landkreis und die Stadt Calw sowie die beiden an der Strecke liegenden Gemeinden Althengstett und Ostelsheim zusammengeschlossen, um die Reaktivierung und das Infrastrukturprojekt dieser Größenordnung zu wagen. Gefahren wird zunächst nur zwischen Calw und Weil der Stadt; für die letzte Etappe sind noch umfangreiche Anschlussarbeiten notwendig.

Ein moderner, weiß-gelber Triebzug vom Typ Siemens Mireo steht bei Sonnenschein an einem Bahnsteig, während Fahrgäste im Hintergrund warten
Luftaufnahme des Calwer Bahnhofs im Herbst: Neben den Gleisen im Tal führt eine Stahl-Glas-Brücke von einem Parkhaus zu einem neu gebauten, höher gelegenen Gleisbett am bewaldeten Hang

Links: Bereit für die Premiere: Drei „Mireo“-Züge warten auf die Hermann-Hesse-Bahn.
Rechts: Haltepunkt Calw mit zwei Etagen am Steilhang: Auf dem oberen Gleis (links) startet die Hermann-Hesse-Bahn.

Am letzten Januartag soll 2026 die Eröffnung mit der Bevölkerung und der Politprominenz gefeiert werden. Das Projekt ist dann schon über 30 Jahre alt. Der Landkreis Calw hatte 1994 die Strecke von der Deutschen Bahn für einen symbolischen Preis gekauft – in der Absicht ihrer Wiederbelebung. Beinahe zwei Jahrzehnte lieferten sich Politiker, Wissenschaftler und Verkehrsexperten dann einen endlosen Dialog, ob und wie der Verkehr auf der Schiene wieder aufgenommen werden kann. Erst Mitte des vergangenen Jahrzehnts kristallisierte sich die Lösung heraus. Wesentlicher Punkt: Das Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg sagte damals die Förderung des Projekts nach dem Landesgemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (LGVFG) zu. Ein Jahr später waren sich Zweckverband, Anrainerkommunen und -kreise einig, das „Stufenkonzept“ umzusetzen: zunächst Bahnbetrieb von Calw bis nach Weil der Stadt und Renningen. In einem späteren Schritt sollen umsteigefreie Direktverbindungen von Calw bis Stuttgart folgen.

Konzept zum Schutz der Fledermäuse

Fast wäre das Projekt daran gescheitert, dass sich in der langen Zeit ohne Zugverkehr Fledermauspopulationen in den beiden Tunneln angesiedelt hatten. Wegen der mehr als 1.000 nach dem Bundesnaturschutzgesetz streng geschützten Tiere brachte die Nutzung der Tunnel Verpflichtungen zum Artenschutz mit sich. Das hatte der Projektträger anfangs unterschätzt. Der Naturschutzbund Baden-Württemberg (Nabu B-W) reichte 2016 eine Klage gegen einen ersten Planfeststellungsabschnitt der Trasse ein, um die Berücksichtigung einzufordern. Unterstützt durch ein vom Verkehrsministerium des Landes angestoßenes Mediationsverfahren arbeiteten der Zweckverband Hermann-Hesse-Bahn und der Nabu eine gemeinsame Lösungsstrategie aus, die den Artenschutz berücksichtigen und allen gesetzlichen Anforderungen genügen sollte. Die Naturschützer zogen dementsprechend 2019 ihre Klage zurück. Basis des Konzeptes war eine Trennung der ursprünglich für den zweigleisigen Betrieb gebauten Tunnel in eine Bahn- und eine Fledermauskammer. Seit der Einigung begleitet der Nabu das Projekt eng und unterstützt die Reaktivierung.

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Durch Umplanungen und Anpassungen der ursprünglich in Leichtbauweise vorgesehenen Trennwandkonstruktion (siehe Infokasten), unter anderem um den Brandschutz gewährleisten zu können, verteuerte sich die Planung. Von im Lauf der Vorplanung geschätzten 120 Millionen Planungs- und Baukosten auf rund 200 Millionen Euro. Hierbei schlugen auch die steigenden Kosten für die Trennwandkonstruktion zu Buche, welche letztendlich als Maßnahme des Artenschutzes erforderlich war.

Eine weitere ökologische Herausforderung war vor der Reaktivierung zu lösen: In einer Schutzmauer in einem Einschnitt waren Steinkrebse entdeckt worden. Ebenfalls eine seltene Art, die durch die eingeschleppte Krebspest nahezu ausgestorben ist. Ein „paar hundert“ der possierlichen Tierchen, so Frank von Meissner, Geschäftsführer des Zweckverbands Hermann-Hesse-Bahn, wurden sachkundig und vorsichtig eingesammelt und für die Restaurierung der tonnenschweren Mauer vorübergehend in ein Refugium ausgelagert. Im nächsten Sommer können sie ihr Habitat wieder beziehen. In den Kalktuffquellen beidseitig der Trasse sind sie dann weiterhin vor der Krebspest sicher und können hier hoffentlich noch lange überleben.

Endlich auf der Zielgeraden

Trotz langer Planungszeiten und der Herausforderungen durch den Artenschutz, die zu bewältigen waren, ist die Hermann-Hesse-Bahn auf der Zielgeraden. Innovative Lösungen für den Fortbestand des bundesweit bedeutenden Fledermaus-Winterbestands wurden gefunden, ein Vergrämungssystem entwickelt und getestet. Es wird auch an anderen Baustellen gute Dienste leisten. Der Lebensraum des Steinkrebses wurde erhalten und die Bahnstrecke fertiggestellt. So wird aus dem umweltfreundlichen Verkehrsmittel ein ganzheitliches Umweltschutzprojekt mit hoher Strahlkraft. Ein Projekt, an und aus dem sich viel lernen lässt und das zeigt, wie der Erhalt einer intakten Umwelt, Artenschutz und Verkehr zusammen erfolgreich sein können. Allen Planungsbeteiligten ist heute klar, dass eine enge Zusammenarbeit und eine rechtzeitige Berücksichtigung aller Belange dazu beitragen können, schneller zum Ziel zu kommen – und schneller heißt vor allem auch billiger.

Was Zweckverbandsgeschäftsführer Frank von Meissner umtreibt, ist die noch erforderliche Verlegung der letzten Schienenmeter vor der Jahreswende: „Das ist mein größter Weihnachtswunsch.“ Andere umfangreiche Baumaßnahmen sind abgeschlossen. Sie dienen alle der künftigen Optimierung des SPNV. Ein knapp zwei Kilometer langer zweigleisiger Streckenabschnitt etwa auf halbem Weg wird künftig zügigen Begegnungsverkehr ermöglichen. Ein Tunnelneubau macht eine Schleife der Altstrecke überflüssig und verkürzt den Weg und die Fahrzeiten. Landrat Helmut Riegger: „Durch diese Maßnahmen können wir unser Betriebsprogramm mit einem Halb-Stunden-Takt von nur zwei Fahrzeugen durchführen.“ Die Stadt Calw leistet sich im Ortsteil Heumaden an der Bahn ein neues Parkhaus für die zu erwartenden Pendlerströme. Mit Blick auf die prognostizierten mindestens 3.000 Fahrgäste am Tag will Landrat Riegger mehr: „Bei den früheren Reaktivierungsprojekten wurden die Vorhersagen in kurzer Zeit überholt. Das wird auch bei der Hermann-Hesse-Bahn so sein.“

Weitere Infos zum Projekt:

https://www.hermann-hesse-bahn.de

Frank von Meissner, Geschäftsführer des Zweckverbands, wünscht sich, dass die letzten Gleise bis Weihnachten verlegt sind

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