Vor gut einem Jahr lockte ein technischer Kraftakt Kamerateams und Schaulustige in die beschauliche Fachwerkidylle im Nagold-Tal. Am Haken eines Spezialkrans wurde eine 30 Meter lange und 29 Tonnen schwere Fußgängerbrücke aus Glas und Stahl hoch über die Dächer gehoben. Nun verbindet sie eine gläsernen Aufzugs- und Treppenturm auf einem Parkhausdach mit dem neuen Bahnsteig für die HermannHesse-Bahn hoch oben am steilen Hang.
Die spezielle Topografie im engen Tal erfordert Zughalte auf zwei Etagen. Auf Gleis 1 fahren wie bisher die Züge von Pforzheim nach Horb. Und das auch schon hoch über der Stadt, auf der Höhe des dritten Parkhausdecks am Calwer ZOB, dem Zentralen Omnibusbahnhof. Neu ist Gleis 2, noch einmal rund elf Meter höher. Hier startet künftig die Hesse-Bahn. Auf der Trasse der Mitte des 19. Jahrhunderts gebauten „Württembergischen Schwarzwaldbahn“ entsteht ein neues Angebot im Schienennahverkehr hinüber nach Weil der Stadt und weiter nach Renningen. Beide Orte sind Stationen der Stuttgarter S-Bahn. Die neue Linie wird in den Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) aufgenommen. Und damit wird es erstmals möglich, mit dessen Verbundtickets günstig in den nördlichen Schwarzwald zu fahren. Aktuelle Hochrechnungen prognostizieren mindestens 3.000 Fahrgäste am Tag.
Trennwand im Tunnel schützt die Fledermäuse
Als Maßnahme des Artenschutzes war an diesem Tunnel eine Trennwandkonstruktion erforderlich, siehe Bild oben. Dass hieraus jedoch eine massive Stahlbetonabtrennung und aufwändige „Einhausung“ vor den Portalen wurden, war so weder von den Naturschützern des Nabu noch vom Zweckverband Hermann-Hesse-Bahn erwartet worden. Auch dass zur Sicherstellung, dass die Tiere nicht in den Bahnbereich, sondern in ihre Kammer an der Seite einfliegen, zwei Jahre vorbereitende Untersuchungen erforderlich waren, hatte niemand erwartet: Die Fledermäuse werden mit Ultraschall „vergrämt“, also vom falschen auf den richtigen Weg zu ihren Ruheplätzen geleitet. Diese innovative Lösung war von der zuständigen Behörde jedoch erst nach langer Prüfung akzeptiert worden. Entsprechend spät gab es auf diesem Streckenabschnitt das Baurecht.
Wo bis in die Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts dieselnd brummende Schienenbusse die immer weniger nachgefragte Nahverkehrsleistung erbrachten, steht ein ökologisch sauberer Neubeginn bevor. Die in Karlsruhe ansässige Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG) ist als Betreiber der Hesse-Bahn beauftragt. Sie wird batterieelektrische Triebzüge vom Typ „Mireo“ einsetzen. Diese können den Strom für ihre Akkus auf dem Abschnitt Weil der Stadt – Renningen während der Fahrt per Stromabnehmer aus der Oberleitung der S-Bahn aufnehmen. Genug Energie, um bis nach Calw und zurück auf der nichtelektrifizierten Strecke fahren zu können.
Batterieelektrisch mit dem „Mireo“
Drei Triebzüge stellt das Land Baden-Württemberg zur Verfügung. Die Fahrzeuge sind von Siemens Mobility schon ausgeliefert und derzeit vermietet, unter anderem an die Regio S-Bahn Ortenau. „Wir können aber vom ersten Tag an, voraussichtlich dem 1. Februar 2026, mit diesen Zügen fahrplanmäßig starten“, freut sich Helmut Riegger, Landrat und Chef des Zweckverbands Hermann-Hesse-Bahn. Zu diesem Zweckverband haben sich der Landkreis und die Stadt Calw sowie die beiden an der Strecke liegenden Gemeinden Althengstett und Ostelsheim zusammengeschlossen, um die Reaktivierung und das Infrastrukturprojekt dieser Größenordnung zu wagen. Gefahren wird zunächst nur zwischen Calw und Weil der Stadt; für die letzte Etappe sind noch umfangreiche Anschlussarbeiten notwendig.
Links: Bereit für die Premiere: Drei „Mireo“-Züge warten auf die Hermann-Hesse-Bahn.
Rechts: Haltepunkt Calw mit zwei Etagen am Steilhang: Auf dem oberen Gleis (links) startet die Hermann-Hesse-Bahn.
Am letzten Januartag soll 2026 die Eröffnung mit der Bevölkerung und der Politprominenz gefeiert werden. Das Projekt ist dann schon über 30 Jahre alt. Der Landkreis Calw hatte 1994 die Strecke von der Deutschen Bahn für einen symbolischen Preis gekauft – in der Absicht ihrer Wiederbelebung. Beinahe zwei Jahrzehnte lieferten sich Politiker, Wissenschaftler und Verkehrsexperten dann einen endlosen Dialog, ob und wie der Verkehr auf der Schiene wieder aufgenommen werden kann. Erst Mitte des vergangenen Jahrzehnts kristallisierte sich die Lösung heraus. Wesentlicher Punkt: Das Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg sagte damals die Förderung des Projekts nach dem Landesgemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (LGVFG) zu. Ein Jahr später waren sich Zweckverband, Anrainerkommunen und -kreise einig, das „Stufenkonzept“ umzusetzen: zunächst Bahnbetrieb von Calw bis nach Weil der Stadt und Renningen. In einem späteren Schritt sollen umsteigefreie Direktverbindungen von Calw bis Stuttgart folgen.
Konzept zum Schutz der Fledermäuse
Fast wäre das Projekt daran gescheitert, dass sich in der langen Zeit ohne Zugverkehr Fledermauspopulationen in den beiden Tunneln angesiedelt hatten. Wegen der mehr als 1.000 nach dem Bundesnaturschutzgesetz streng geschützten Tiere brachte die Nutzung der Tunnel Verpflichtungen zum Artenschutz mit sich. Das hatte der Projektträger anfangs unterschätzt. Der Naturschutzbund Baden-Württemberg (Nabu B-W) reichte 2016 eine Klage gegen einen ersten Planfeststellungsabschnitt der Trasse ein, um die Berücksichtigung einzufordern. Unterstützt durch ein vom Verkehrsministerium des Landes angestoßenes Mediationsverfahren arbeiteten der Zweckverband Hermann-Hesse-Bahn und der Nabu eine gemeinsame Lösungsstrategie aus, die den Artenschutz berücksichtigen und allen gesetzlichen Anforderungen genügen sollte. Die Naturschützer zogen dementsprechend 2019 ihre Klage zurück. Basis des Konzeptes war eine Trennung der ursprünglich für den zweigleisigen Betrieb gebauten Tunnel in eine Bahn- und eine Fledermauskammer. Seit der Einigung begleitet der Nabu das Projekt eng und unterstützt die Reaktivierung.