Ein Land, ein Stellwerk“ – das ist das Ziel, das sich der norwegische Bahninfrastrukturbetreiber „Bane Nor“ gesetzt hat. Von einer einzigen Schaltzentrale aus, die zum Schutz vor Sabotageakten an einem geheimen Standort installiert wird, soll der Bahnbetrieb auf dem 4.200 Kilometer langen Schienennetz vollständig über das Internet gesteuert und überwacht werden. Mehr als 300 lokale und regionale Stellwerke gehen dann außer Betrieb. Darunter sind etliche Jahrzehnte alte Anlagen mit Relaistechnik der 1950er-Jahre, die „Bane Nor“ zufolge für rund 40 Prozent aller Störungen im Netz ursächlich sind. Aktuell sind dort die Züge von neun Bahnunternehmen unterwegs.
Seit 2017 läuft das derzeit mit 2,5 Milliarden Euro veranschlagte Gesamtprojekt, das 2034 abgeschlossen sein soll. Die Norweger leisten sich für die Digitalisierung des Eisenbahnwesens ein komplettes ERTMS-Paket: ein European Rail Traffic Management System, das die rechnergesteuerte, funkbasierte Leit- und Sicherungstechnik mit ETCS einrichtet sowie die digitale Nachrüstung von 350 Triebfahrzeugen mit Onboardunits für die betriebliche Mobilfunkkommunikation vorsieht. Weiterhin wird ein Traffic Management System (TMS) installiert. Es soll automatisiert die Betriebsabläufe steuern und sie bei Störungen möglichst schnell zum Fahrplan zurückführen. Das ist in Norwegen besonders wichtig, da das Streckennetz weitgehend eingleisig mit nur kurzen Ausweichstellen für den Begegnungsverkehr angelegt ist und sich Verspätungen deshalb dann häufig in beide Richtungen fortsetzen.
Schon wenige Zahlen machen beispielhaft deutlich, dass die Digitalisierung der Eisenbahn in Deutschland vor ganz anderen Dimensionen steht. Dem Positionspapier des VDV zufolge müssen mindestens 14.000 Triebfahrzeuge mit Onboardunits ausgestattet werden, vermutlich noch einige tausend mehr. Der aktuelle Stand laut Netzbetreiber DB InfraGO: 370 ICE und bis Ende nächsten Jahres knapp 500 Regionaltriebzüge für den neuen Stuttgarter Hauptbahnhof sind ETCS-tauglich, gerade zwei Prozent des Netzes sind mit moderner Leit- und Sicherungstechnik ausgestattet. Zwischen dem Schienennetz des Bundes mit rund 33.500 Kilometern und den über 4.000 Kilometer Strecken der NE-Bahnen – den nichtbundeseigenen regionalen Betreibern, Werks- und Hafenbahnen – gibt es der Untersuchung zufolge über 2.200 Schnittstellen; etwa jeder zweite Güterzug passiert täglich eine derartige Verknüpfung. Für den Güterverkehr gibt es bisher nur eine dreistellige Anzahl ETCS-tauglicher Loks.
Digitalisierung und Infrastruktur anpacken
Dagegen wirkt das norwegische Projekt überschaubar. Dort müssen für ETCS 6.000 Weichenantriebe eingebaut, 450 Bahnübergänge auf die digitale Überwachung umgestellt, 9.000 Achszähler und 14.000 Balisen - Elemente zur Datenübertragung - in die Gleise implementiert werden. Für den auf dem Mobilfunkstandard GSM aufbauenden Zugbahnfunk GSM-R wurden 600 Mobilfunkbasisstationen im Netz errichtet. Diese Schritte der Digitalisierung wurden in Norwegen in ein umfassendes Aus- und Neubauprogramm für das Schienennetz integriert. Ein solch integrierter Ansatz ist auch in Deutschland erforderlich. Die Digitalisierung der Leit- und Sicherungstechnik könne ihre Wirkung nur dann vollständig entfalten, „wenn sie gemeinsam mit Maßnahmen an der Infrastruktur“ installiert wird, heißt es im Positionspapier des VDV. Von der Kapazitätserhöhung auf Hauptstrecken und Ausweichrouten über die Schließung von Elektrifizierungslücken bis zum Neubau von Verbindungskurven reicht der detaillierte Katalog mit Ausbau- und Neubaumaßnahmen zur Optimierung des Schienennetzes.
Die Gjøvik Line aus der Provinzstadt am Westufer des langgestrecken Mjøsa-Sees in die etwa 120 Kilometer entfernte Hauptstadt Oslo ist seit Ende des vergangenen Jahres auf ihrem knapp 70 Kilometer langen Nordabschnitt als erste Strecke auf die neue Leit- und Sicherungstechnik umgestellt. Die Lichtsignale am Bahndamm bleiben seitdem dunkel; Fahrbefehle in den Führerstand und die Kommunikation zwischen Lokführer und Fahrdienstleiter im Stellwerk erfolgen ausschließlich elektronisch via Bahnmobilfunk. Die Bewegung der Züge im Netz wird zuverlässig von Balisen im Gleis registriert und von Rechnern ausgewertet. Das System funktioniert zwar zwei Jahre später als geplant, aber mit einer perfekten Verfügbarkeit von über 99 Prozent.
Obwohl Norwegen kein EU-Mitglied ist, habe man sich bewusst für die europäische Technologie entschieden, betont „Bane Nor“-Vorstand Sverre Kjenne. Er empfiehlt die in Norwegen begonnene konsequente Umsetzung von ERTMS den europäischen Bahnkollegen zur Nachahmung. Damit plädiert er mit dem Blick auf europaweite Wettbewerbsfähigkeit im Personen- wie Güterverkehr für einheitliche Systemlösungen des Schienenverkehrs von morgen und übermorgen – statt nationaler Alleingänge. Ein Gedanke, der sich auch im VDV-Papier findet.
So waren die Auftragsvergaben aus Oslo sicherlich nicht zufällig europäisch: Den Aufbau der ETCS-Infrastruktur sicherte sich Siemens Mobility als der federführende Auftragnehmer. Alstom liefert die Onboardunits für die Triebfahrzeuge. Das Verkehrsleitsystem TMS wurde an die Bahntechniksparte der deutsch-französischen Thales Group vergeben, die zwischenzeitlich vom japanischen Wettbewerber Hitachi übernommen wurde. Über die in den nächsten Jahren folgenden sukzessiven Streckenausrüstungen mit den neuen Technologien hinaus sind die großen Auftragnehmer noch für weitere 25 Jahre jeweils nach Abschluss der Bau- und Installationsarbeiten mit Wartungsverträgen an das Projekt gebunden.